Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
Millionen Tote im Ersten Weltkrieg. Die Zahlen waren erschütternd. Die Leute fragten sich vielleicht: Kann der Mensch einen schlimmeren Feind haben als sich selbst?
    Die Antwort lautete: Ja.
    Obwohl die Menschen den Feind nicht sehen konnten, waren sie von ihm umzingelt. Er war in ihnen – in der Luft, die sie atmeten, in allem, was sie aßen und tranken. Er war seit jeher der Fluch der Menschheit, und er würde weiterleben, wenn sie längst vom Antlitz der Erde verschwunden war. Der Feind war die Welt der Kleinstlebewesen – der Mikroben, die im Laufe der Jahrhunderte mehr Menschen getötet hatten als alle Kriege zusammen.
    Von 542 bis 767 nach Christus vierzig Millionen Pesttote bei der Justinianischen Pandemie.
    Im vierzehnten Jahrhundert wiederum fünfundzwanzig Millionen Opfer des Schwarzen Todes.
    Zwischen 1918 und 1919 dreißig Millionen Todesopfer bei der Grippeepidemie.
    Und 1997 Amy Sorensen Profitt, gestorben an Pneumokockenpneumonie im Alter von dreiundvierzig Jahren.
    Er aß seinen Apfel zu Ende, tat den Butzen in die Tüte und rollte alles zu einem ordentlichen Bündel zusammen. Trotz des frugalen Mahls fühlte er sich gesättigt. Er blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen, während er die letzten Schlucke aus der Wasserflasche trank.
    Eine Touristin ging vorbei, eine Frau um die vierzig mit hellbraunem Haar. Als sie sich zufällig umdrehte und das Licht schräg auf ihr Gesicht fiel, sah sie aus wie Amy. Sie spürte, dass er sie anstarrte, und sah zu ihm hin. Einen Moment lang schauten sie einander in die Augen; sie mit misstrauischer, er mit entschuldigender Miene. Dann ging sie weiter, und er kam zu dem Schluss, dass sie Amy eigentlich gar nicht ähnlich sah. Niemand sah so aus wie sie. Das war unmöglich.
    Er stand auf, warf seinen Müll in einen Abfalleimer und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Vorbei an der Mauer.
    Vorbei an den uniformierten Veteranen mit ihrem inzwischen ergrauten und etwas ungepflegten Haar. Sie hielten Wache, hielten die Erinnerung an die Toten lebendig.
    Aber auch Erinnerungen verblassen,
dachte er. Ihr Bild, wie sie ihn über den Küchentisch hinweg angelächelt hatte, das Echo ihres Lachens – all das schwand mit der Zeit dahin. Nur die schmerzlichen Erinnerungen blieben lebendig. Ein Hotelzimmer in San Francisco. Ein Anruf mitten in der Nacht. Ein wirrer Bilderreigen von Flughäfen, Taxis und Telefonzellen – wie er vom einen Ende des Landes zum anderen gehetzt war, um rechtzeitig das Bethesda-Krankenhaus zu erreichen.
    Aber nekrotisierende Streptokokken kümmert das alles nicht, sie folgen ihrem eigenen tödlichen Zeitplan.
Genau wie die Chimäre.
    Er tat einen Atemzug und fragte sich, wie viele Viren, wie viele Bakterien, wie viele Sporen wohl gerade in seine Lungen gewirbelt waren. Und welche davon ihn vielleicht töten würden.

20
    15. August
    »Wenn ihr mich fragt, die können uns mal«, sagte Luther. Die Funkverbindung zur Erde war ausgeschaltet, sodass die Bodenkontrolle ihre Unterhaltung nicht verfolgen konnte. »Wir gehen einfach zurück in das CRV, drücken auf die Knöpfe, und weg sind wir. Sie können uns schließlich nicht zwingen, umzukehren.«
    Sobald sie von der Station abgelegt hatten,
konnten
sie gar nicht mehr umkehren. Das CRV war im Grunde nur ein Raumgleiter mit Bremsfallschirmen. Nach der Abtrennung von der ISS konnte es maximal vier Umdrehungen um die Erde fliegen, bevor es gezwungen war, die Umlaufbahn zu verlassen und zu landen.
    »Man hat uns angewiesen, uns nicht von der Stelle zu rühren«, sagte Griggs. »Und daran werden wir uns halten.«
    »Wir sollen so einem bescheuerten Scheißbefehl folgen? Nikolai
stirbt,
wenn wir ihn nicht nach Hause schaffen!«
    Griggs sah Emma an: »Ihre Meinung, Watson?«
    Die letzten vierundzwanzig Stunden hatte Emma an der Seite ihres Patienten verbracht und ihn genau beobachtet. Sie konnten mit eigenen Augen sehen, dass sein Zustand kritisch war. Zuckend und zitternd lag er festgeschnallt auf dem Untersuchungstisch, und manchmal schlugen seine Arme und Beine so heftig aus, dass Emma befürchtete, er könnte sich die Knochen brechen. Er sah aus wie ein Boxer, der nach einer gnadenlosen Abreibung aus dem Ring getragen wird. Subkutane Emphyseme hatten die Weichteile seines Gesichts aufquellen lassen; die Augenlider waren zugeschwollen. Durch die engen Schlitze schimmerte das leuchtende, dämonische Rot seiner Lederhäute.
    Sie wusste nicht, wie viel Nikolai hörte oder verstand, und wagte deshalb

Weitere Kostenlose Bücher