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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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aufgenommen, dass sie für ihn so wirklich geworden waren, als hätte er an jenem Morgen selbst auf der Zuschauertribüne in Cape Canaveral gestanden.
    Und jetzt war die Erinnerung in seinen Albträumen wieder lebendig geworden.
    Es ist wegen Emmas Start.
    In der Dusche hielt er den Kopf unter den harten, kalten Wasserstrahl und wartete darauf, dass die letzten Spuren seines Traums fortgespült wurden. Ab nächster Woche hatte er drei Wochen Urlaub, aber von Urlaubsstimmung konnte keine Rede sein. Er war seit Monaten nicht mehr mit dem Segelboot draußen gewesen. Vielleicht waren ein paar Wochen auf dem Wasser, weit weg von den grellen Lichtern der Stadt, tatsächlich die beste Therapie. Nur er selbst, das Meer und die Sterne.
    Wie lange war es her, dass er die Sterne zuletzt wirklich betrachtet hatte! In letzter Zeit schien er es bewusst zu vermeiden, ihnen auch nur einen Blick zu schenken. Als kleiner Junge hatte der Himmel eine magische Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Seine Mutter hatte ihm einmal erzählt, er habe als kleines Kind eines Abends auf dem Rasen gestanden und beide Arme hoch in die Luft gereckt, weil er den Mond anfassen wollte. Als ihm das nicht gelungen war, hatte er vor Enttäuschung bitterlich geweint.
    Der Mond, die Sterne, die Schwärze des Weltraums – all das war für ihn jetzt unerreichbar, und er kam sich oft vor wie der kleine Junge, der er einmal gewesen war, die Arme in die Luft gestreckt und vor Enttäuschung weinend, weil seine Füße an den Boden gefesselt waren.
    Er drehte die Dusche ab, stützte sich mit beiden Händen gegen die Kacheln und hielt den Kopf gesenkt, während das Wasser aus seinen Haaren tropfte.
Heute ist der sechzehnte Juli,
dachte er.
Noch acht Tage bis zu Emmas Flug.
Er spürte, wie das Wasser seine Haut abkühlte.
    Innerhalb von zehn Minuten war er angezogen und saß in seinem Auto.
    Es war Dienstag. Emma und ihr neues Flugteam schlossen gerade ihre dreitägige integrierte Simulation ab; sie würde erschöpft sein und keine Lust haben, ihn zu sehen. Aber morgen war sie bereits auf dem Weg nach Cape Canaveral. Morgen konnte er sie nicht mehr erreichen.
    Am Johnson Space Center angekommen, stellte er den Wagen auf dem Parkplatz vor Bau 30 ab, hielt den Sicherheitsleuten seine NASA-Dienstmarke hin und lief die Treppe zum Shuttle-Flugkontrollraum hoch. Er fand eine Atmosphäre angespannter Stille vor. Die dreitägige integrierte Simulation war sowohl für die Astronauten als auch für das Team der Bodenkontrolle so etwas wie die letzte Prüfung – ein mit Zwischenfällen gespickter Durchlauf der gesamten Mission vom Start bis zur Landung. Es wurden die verschiedensten Funktionsstörungen eingebaut, damit jeder Einzelne ständig auf Draht blieb. Das Kontrollpersonal in diesem Raum hatte sich in den letzten drei Tagen mehrmals in drei Schichten abgewechselt, und die zwei Dutzend Männer und Frauen, die jetzt an den Konsolen saßen, wirkten müde und abgekämpft. Der Abfalleimer quoll über von Kaffeebechern und Coladosen. Einige Controller sahen Jack und nickten ihm zu, doch für eine richtige Begrüßung war keine Zeit. Sie hatten es gerade mit einer ernsthaften Krise zu tun, und alle Aufmerksamkeit richtete sich auf dieses Problem. Es war das erste Mal seit Monaten, dass Jack dem Kontrollraum einen Besuch abstattete, und er spürte die alte Erregung, die elektrische Spannung, die diesen Raum zum Knistern brachte, wenn eine Mission anstand.
    Er ging zur dritten Konsolenreihe und stellte sich neben Flugdirektor Randy Carpenter, der im Moment zu beschäftigt war, um sich mit ihm zu unterhalten. Carpenter war so etwas wie der Hohepriester unter den Flugdirektoren des Shuttle-Programms. Mit seinen reichlich hundertzwanzig Kilo und dem üppigen Bauch, der über den Gürtel seiner Hose quoll, dominierte er den gesamten Kontrollraum. Breitbeinig saß er da, wie ein Kapitän auf der Brücke eines Schiffes in stürmischer See. In diesem Raum hatte Carpenter das Sagen. »Ich bin das beste Beispiel dafür, wie weit eine fette Brillenschlange es im Leben bringen kann«, pflegte er zu sagen. Anders als der legendäre Flugdirektor Gene Kranz, dessen Ausspruch »Ein Fehlschlag kommt nicht in Frage« ihn zum Medienhelden gemacht hatte, war Carpenter nur in den Reihen der NASA wohl bekannt. Sein wenig fotogenes Äußeres machte es sowieso unwahrscheinlich, dass er je zum Filmstar avancierte.
    Jack lauschte eine Weile den Gesprächen, die über das interne Kommunikationssystem

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