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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Montagegebäudes verlassen, um einen Blick auf den Moloch zu werfen, der sie in den Weltraum transportieren würde. Emma hörte den Schrei eines Nachtvogels und spürte die kühle, frische Brise, die vom Golf her wehte und den brackigen Geruch der nahen Feuchtgebiete vertrieb.
    »Da fühlt man sich irgendwie ganz klein, was?«, meinte Commander Vance in seinem weichen Texaner-Akzent.
    Zustimmendes Gemurmel war die Antwort.
    »Klein wie ’ne Ameise«, sagte Chenoweth, das einzige Greenhorn in der Crew Dies würde sein erster Shuttleflug sein, und er war so aufgeregt, dass er ein eigenes elektrisches Feld um sich herum zu erzeugen schien. »Ich vergesse immer wieder, wie riesig es ist, und dann schau ich noch mal hin und denke, Junge, was für eine geballte Kraft. Und ich bin der Glückspilz, der mit dem Ding da fliegen darf.«
    Alle lachten, doch es war ein unterdrücktes, beklommenes Lachen, wie in einer Kirche.
    »Ich hätte nie gedacht, dass eine Woche so lang sein könnte«, meinte Chenoweth.
    »Der Mann hat sein Jungfrauendasein wirklich satt«, bemerkte Vance.
    »Und ob ich es satt habe. Ich will endlich da rauf.« Sehnsüchtig blickte Chenoweth zum Himmel hinauf. Zu den Sternen.
    »Ihr kennt das Geheimnis schon, und ich kann es kaum erwarten, eingeweiht zu werden.«
    Das Geheimnis.
Es war das Privileg der wenigen Auserwählten, die schon einmal oben gewesen waren. Dieses Geheimnis konnte man nicht weitergeben; jeder musste es selbst erleben, musste mit eigenen Augen die Schwärze des Alls erblicken und die blaue Kugel der Erde unten in der Tiefe. Das Gefühl, wenn der Schub der Raketen dich tief in den Sitz hineindrückt. Astronauten, die aus dem Weltraum zurückkehren, sind oft an ihrem wissenden Lächeln zu erkennen, an ihrer Miene, die sagt:
Ich habe eine Erfahrung gemacht, die nur wenigen Menschen je zuteil wird.
    Auch Emma hatte so gelächelt, als sie vor über zwei Jahren aus der Luke der
Atlantis
ausgestiegen war. Mit zitternden Knien war sie hinaus in den Sonnenschein getreten und hatte in den unglaublich blauen Himmel gestarrt. In den acht Tagen an Bord des Raumtransporters hatte sie hundertdreißig Sonnenaufgänge erlebt, hatte Waldbrände in Brasilien beobachtet und in das Auge eines Wirbelsturms über Samoa geblickt; sie hatte eine Erde gesehen, die ihr ungeheuer zerbrechlich vorgekommen war. Sie war als völlig anderer Mensch zurückgekommen.
    In fünf Tagen würde Chenoweth das Geheimnis mit ihnen teilen, falls keine Katastrophe dazwischenkam.
    »Es wird Zeit, dass diese Netzhäute ein bisschen Licht abbekommen«, meinte Chenoweth. »Mein Gehirn ist immer noch der Meinung, es wäre tiefste Nacht.«
    »Es
ist
tiefste Nacht«, korrigierte Emma.
    »Für uns ist es kurz vor Sonnenaufgang, Leute«, sagte Vance. Von allen im Team hatte er seinen Tag-Nacht-Rhythmus am schnellsten an den neuen Zeitplan angepasst. Jetzt schritt er entschlossen auf das Test- und Montagegebäude zu, um einen kompletten Arbeitstag zu beginnen – und das um drei Uhr morgens.
    Die anderen folgten ihm. Nur Emma blieb noch einen Moment draußen und blickte zum Shuttle hinüber. Am Tag zuvor waren sie zur Startrampe hinausgefahren, um ein letztes Mal das Vorgehen im Fall einer Evakuierung durchzugehen. Im Sonnenschein und aus der Nähe betrachtet war das Shuttle ihr blendend hell erschienen, viel zu gewaltig, um es voll erfassen zu können. Man konnte sich immer nur auf einen bestimmten Teil konzentrieren. Die Nase. Die Flügel. Die schwarzen Platten der Hülle, die aussahen wie Schuppen auf dem Bauch eines Reptils. Im Tageslicht hatte das Shuttle echt gewirkt, irgendwie handfest. Jetzt, hell erleuchtet vor dem Hintergrund des Nachthimmels, sah es aus, als sei es nicht von dieser Welt.
    Während der hektischen Vorbereitungszeit hatte Emma einfach keine unguten Gefühle in sich aufkommen lassen. Entschlossen hatte sie sämtliche Bedenken unterdrückt. Sie war bereit zu fliegen. Sie wollte fliegen. Doch jetzt verspürte sie einen Anflug von Angst.
    Sie blickte zum Himmel empor und sah die Sterne hinter einem vorrückenden Wolkenband verschwinden. Ein Wetterumschwung stand unmittelbar bevor. Es überlief sie kalt, und sie drehte sich um und ging in das Gebäude zurück. Dorthin, wo es hell war.

23. Juli, Houston
    Ein halbes Dutzend Schläuche schlängelten sich in Debbie Hanings Körper. In ihrem Hals steckte eine Tracheotomiekanüle, durch die Sauerstoff in ihre Lungen gepumpt wurde. Ein Schlauch war durch ihr linkes Nasenloch

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