In der Schwebe
Zweck, sich durch dieses Chaos hindurchzukämpfen. Er sah auch keinen Sinn darin, es durch Port Canaveral zu versuchen. Um diese Zeit schliefen die Astronauten sowieso. Er war zu spät dran, um auf Wiedersehen zu sagen.
Er bog von der Straße ab, wendete und fuhr zurück zum Highway A1A in Richtung Cocoa Beach.
Schon seit den Tagen Alan Shepards und der legendären sieben Mercury-Helden war Cocoa Beach die Vergnügungsmeile der Astronauten, eine Ansammlung etwas zwielichtiger Hotels, Bars und T-Shirt-Läden auf einer schmalen Landzunge zwischen dem Banana River im Westen und dem Atlantik im Osten. Jack kannte das Viertel gut, vom Tokyo Steak House bis zur Moon Shot Bar. Einmal war er denselben Strand entlanggejoggt, an dem John Glenn zu laufen pflegte. Es war erst zwei Jahre her, dass er am Jetty Park gestanden und über den Banana River hinweg zur Startrampe 39A geblickt hatte. Zu
seinem
Shuttle, dem Vogel, der ihn in den Weltraum tragen sollte. Die Erinnerungen waren immer noch von Schmerzen getrübt. Der Dauerlauf am Strand an einem brütend heißen Nachmittag. Der plötzliche, unerträgliche Schmerz in seiner Seite, so ungeheuer heftig, dass es ihn in die Knie gezwungen hatte. Und dann, durch den Schleier der Narkose, das ernste Gesicht seines Flugarztes, der ihm die Nachricht überbracht hatte. Ein Nierenstein.
Man schloss ihn von der Mission aus.
Schlimmer noch, seine Zukunft in der Raumfahrt stand auf dem Spiel. Nierensteine gehörten zu den wenigen Leiden, die für einen Astronauten ein permanentes Flugverbot zur Folge haben konnten. Die Mikrogravitation bewirkt physiologische Verschiebungen in den Körperflüssigkeiten, was Dehydration zur Folge hat und dazu führt, dass die Knochen Kalzium ausscheiden. Diese beiden Faktoren zusammen erhöhen das Risiko einer erneuten Nierensteinbildung während eines Aufenthalts im All – ein Risiko, das die NASA nicht eingehen wollte. Obwohl er weiterhin dem Astronautenkorps angehörte, war Jack praktisch zum Bodendienst verdonnert. Er war, in der Hoffnung, noch einmal an einer Mission teilnehmen zu dürfen, noch ein Jahr dabeigeblieben. Doch sein Name war nie mehr auf einer Besatzungsliste erschienen. Er war zu einem Geisterastronauten geworden, dazu verdammt, auf der Suche nach einer Mission ohne Unterlass durch die Flure des JSC zu wandern.
Zurück zur Gegenwart. Er war nun wieder in Canaveral, doch nicht als Astronaut, sondern nur als einer der vielen Touristen, die die A1A bevölkerten, hungrig, missgestimmt und ohne Ziel. Alle Hotels in einem Umkreis von sechzig Kilometern waren ausgebucht, und er war müde vom Fahren.
Er fuhr auf den Parkplatz des Hilton Hotel und steuerte die Bar an.
Der Laden war gehörig aufgemotzt worden, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Neuer Teppich, neue Barhocker, Blumenampeln mit Farnen unter der Decke. Früher war es ein eher schäbiges Lokal gewesen, ein heruntergekommenes Hilton an einer heruntergekommenen Touristenmeile. Am Cocoa Beach gab es keine Vier-Sterne-Hotels. Das hier war die luxuriöseste Unterkunft weit und breit.
Er bestellte einen Scotch mit Wasser und richtete den Blick auf den Fernseher über der Bar. Der offizielle NASA-Kanal war eingestellt, und auf dem Bildschirm war das Shuttle
Atlantis
zu sehen, in gleißendes Flutlicht getaucht und umhüllt von gespenstischen Dunstschwaden. Emmas Taxi ins Weltall. Er starrte das Bild an und dachte an die Millionen von Drähten im Innern dieses Rumpfes, an die zahllosen Schalter und Datenbusse, die Schrauben, Nahtstellen und Dichtungen. Millionen von Dingen, die schief gehen konnten. Es war ein Wunder, dass so selten wirklich etwas schief ging. Dass der Mensch in all seiner Unvollkommenheit ein Raumfahrzeug von solcher Zuverlässigkeit entwerfen und bauen konnte und dass sieben Menschen bereit waren, sich darin festschnallen zu lassen.
Bitte, lieber Gott, lass diesen Start einen von der perfekten Sorte sein. Von der Sorte, bei der jeder Einzelne seinen Job ordentlich erledigt hat und keine Schraube locker ist. Es muss ein perfekter Start sein, denn meine Emma wird an Bord sein.
Eine Frau setzte sich neben ihn auf den Hocker und sagte: »Ich wüsste zu gerne, was die jetzt gerade denken.«
Er sah sie an, und ein flüchtiger Blick auf ein Stück nackten Oberschenkel weckte für einen Moment sein Interesse. Sie war eine geschmeidige, sonnengebräunte Blondine mit einem dieser nichts sagenden Schaufensterpuppengesichter, die man nach einer Stunde schon wieder
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