In der Schwebe
eingeschlafen waren.
Er beschloss, sie nicht zu wecken, und kehrte allein in das US-Labor zurück.
Kenichi hatte noch nie mehr als fünf Stunden Schlaf gebraucht, und wenn die anderen in ihren Kojen lagen, streifte er oft durch das Labyrinth der Raumstation und sah bei seinen verschiedenen Experimenten nach dem Rechten. Alles überprüfte und erkundete er. Es schien, als ob der eigene geheimnisvolle Charakter der Station sich erst offenbarte, wenn die Menschen an Bord schliefen. Dann war sie ein eigenständiges Wesen, das summte, knisterte und knackte, ein elektronischer Organismus, durch dessen Nervenbahnen und Adern aus Draht Befehle hin und her zischten, die Tausende von verschiedenen Funktionen steuerten. Während Kenichi durch das Labyrinth von Tunneln und Röhren schwebte, musste er an all die Menschenhände denken, deren Arbeit in jedem einzelnen Quadratzentimeter dieser Konstruktion steckte. Die Elektriker und Metallarbeiter, die Kunststoffformer. Die Glaser. Ihrer Mühe war es zu verdanken, dass ein in einem abgelegenen japanischen Bergdorf aufgewachsener Bauernsohn jetzt dreihundertfünfzig Kilometer über der Erde schwebte.
Kenichi war inzwischen einen Monat an Bord der Station, doch immer noch versetzten ihn all diese Dinge in ehrfürchtiges Staunen.
Er wusste, dass sein Aufenthalt hier begrenzt war. Er kannte den Tribut, der von seinem Körper gefordert wurde: der stetige Kalziumverlust in den Knochen, das Verkümmern der Muskeln, die Schwächung von Herz und Arterien wegen der fehlenden Belastung durch die Schwerkraft. Jeder Moment an Bord der ISS war kostbar, und er wollte keine Minute vergeuden. Und so war er während der Stunden der Nachtruhe immer auf Achse, warf hier und da einen Blick durch ein Fenster oder stattete den Tieren im Labor einen Besuch ab.
Dabei hatte er auch die tote Maus entdeckt.
Sie hatte mit starr von sich gestreckten Beinen in der Luft geschwebt, das kleine rosa Maul weit aufgerissen. Wieder eins von den Männchen. Es war die vierte tote Maus in sechzehn Tagen.
Er vergewisserte sich, dass das Habitat richtig funktionierte, dass die Temperatureinstellungen nicht verändert worden waren und die Luftzuführung immer noch bei den regulären zwölf Umwälzungen pro Stunde lag. Weshalb starben die Mäuse? Konnte es sich um eine Verunreinigung des Wassers oder des Futters handeln? Vor einigen Monaten hatte die Station ein Dutzend Ratten verloren, weil giftige Chemikalien in die Wasserversorgung des Tierhabitats eingedrungen waren.
Die Maus schwebte in einer Ecke des Käfigs. Die übrigen Männchen drängten sich am anderen Ende, als ekelten sie sich vor dem Kadaver ihres Käfiggenossen. Fieberhaft suchten sie zu entkommen, klammerten sich mit ihren Pfoten an das Käfiggitter. Auf der anderen Seite der Drahtsperre hockten die weiblichen Mäuse ebenfalls auf einem Haufen zusammen. Bis auf eine. Sie hing in der Luft und drehte sich langsam im Kreis, wobei sie zuckte und krampfartig mit den Beinen strampelte.
Wieder war eine krank geworden.
Und dann musste er zusehen, wie das Weibchen ein letztes Mal qualvoll nach Luft schnappte und der kleine Körper plötzlich schlaff wurde.
Die anderen Weibchen drängten sich noch dichter zusammen, ein verschrecktes Häufchen aus zappelndem weißem Fell. Er musste die Kadaver entfernen, bevor sie die übrigen Mäuse ansteckten – falls es sich tatsächlich um etwas Ansteckendes handelte.
Er koppelte das Habitat mit dem biowissenschaftlichen Handschuhkasten, zog sich Latexhandschuhe über und schob die Hände durch die Gummiabdichtungen. Zuerst fischte er aus der Seite für die Männchen den Kadaver heraus und steckte ihn in einen Plastikbeutel. Dann öffnete er den Käfig der Weibchen und streckte die Hand nach der zweiten toten Maus aus. Während er sie herauszog, schoss plötzlich ein weißes Fellknäuel an seiner Hand vorbei.
Eine der Mäuse war in die Handschuhbox entkommen.
Er schnappte sie aus der Luft. Und ließ sie sofort wieder los, als er den stechenden Schmerz spürte. Sie hatte ihn durch den Handschuh in den Finger gebissen.
Er zog sofort die Hände aus dem Kasten, rollte rasch die Handschuhe ab und inspizierte seinen Finger. Ein Tropfen Blut quoll hervor; der unerwartete Anblick verursachte ihm Übelkeit. Er schloss die Augen und schalt sich innerlich. Das hier war gar nichts – kaum mehr als ein Nadelstich. Nichts weiter als die verständliche Rache einer Maus für all die Spritzen, mit denen er sie und ihre Artgenossen
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