In der Schwebe
Zweigen in Tierkadaver hineinzustechen, die sie im Wald gefunden hatte.
Sie beschloss, weiter von der Leiche abzurücken.
Sie brachte ihren Schlafsack nach Backbord und machte ihn hinter der Leiter zum Oberdeck fest. Es war die größtmögliche Entfernung, die sie zwischen sich und den Toten bringen konnte, ohne das Deck zu wechseln. Dann zog sie den Reißverschluss wieder zu. Morgen, beim Wiedereintritts- und Landemanöver, müssten alle ihre Reflexe einwandfrei funktionieren, alle Gehirnzellen optimal arbeiten. Mit bloßer Willenskraft gelang es ihr, sich in eine immer tiefer werdende Trance zu zwingen.
Sie schlief schon, als die schillernde Flüssigkeit in kleinen Wirbeln aus Kenichis Leichensack hervorzuquellen begann.
Angefangen hatte es mit ein paar glitzernden Tröpfchen, die durch den kleinen Riss in der Plastikfolie gesickert waren, wo sie an der Lüftungsöffnung hängen geblieben war. Über Stunden hatte sich Druck aufgebaut, und mit dem Anschwellen seines Inhalts hatte die Plastikhülle sich immer mehr aufgebläht. Jetzt hatte das Loch sich geweitet, und ein schimmerndes flüssiges Band strömte daraus hervor. Es entwich durch die Lüftungsschlitze der Koje und löste sich dann in viele blaugrüne Tröpfchen auf, die eine Weile im schwerelosen Raum umhertanzten, um dann wieder zu größeren Kugeln zu verschmelzen, die im schwachen Licht der Kabine auf und ab schwebten. Immer mehr opaleszierende Flüssigkeit ergoss sich aus dem Plastiksack. Die Tropfen breiteten sich, getragen vom sanften Strom der zirkulierenden Luft, weiter aus. Sie trieben quer durch die Kabine bis hin zu der schlaffen, reglosen Gestalt, die in ihrem tiefen Schlaf weder die schimmernde Wolke bemerkte, die sie allmählich einhüllte, noch den Nebel, den sie mit jedem ruhigen Atemzug inhalierte, oder die Tröpfchen, die sich wie Kondenswasser auf ihrem Gesicht absetzten. Nur einmal regte Jill Hewitt sich kurz, um sich über die Wange zu wischen, wo die glitzernden Tröpfchen sie kitzelten, während sie langsam auf ihr Auge zuglitten. Mit dem Luftstrom aufsteigend, passierten die tanzenden Tröpfchen den Durchgang zwischen den Decks und breiteten sich im Dämmerlicht des Oberdecks aus, wo die drei Männer in der völligen Entspannung der Schwerelosigkeit schwebten und schliefen.
12
8. August
Der ominöse Wirbel hatte schon vor einigen Tagen über der östlichen Karibik Gestalt angenommen. Begonnen hatte alles als Trog an der Rückseite eines Tiefdruckgebiets, ein sanft gewelltes Wolkenfeld, entstanden aus dem verdunsteten Wasser des sonnenbeschienenen Ozeans. Die Wolken waren mit einer von Norden kommenden Kaltluftschicht zusammengestoßen und ins Rotieren gekommen. Jetzt kreisten sie um ein windstilles Auge aus trockener Luft. Die Spirale schien mit jedem Bild, das der geostationäre Wettersatellit GOES lieferte, weiter anzuwachsen. Der Nationale Wetterdienst hatte die Turbulenz vom Moment ihrer Entstehung an verfolgt und ihre zunächst ziellosen, mäandernden Bewegungen vor der Ostküste Kubas beobachtet. Nun kamen die neuesten Bojendaten herein, mit Messungen von Temperatur, Windstärke und Windrichtung. Diese Daten bestätigten, was die Meteorologen bereits auf ihren Computerbildschirmen sahen.
Es war ein tropischer Wirbelsturm. Und er bewegte sich in nordwestlicher Richtung auf die Südspitze Floridas zu.
Das war genau die Art von Meldung, die Flugdirektor Randy Carpenter fürchtete wie der Teufel das Weihwasser. Technische Pannen konnten sie beheben. Auch für komplexe Fehlfunktionen der elektronischen Systeme fanden sie immer irgendwie eine Lösung. Aber gegen die Mächte der Natur waren sie machtlos. In der Besprechung des Bodenkontrollteams der Shuttle-Mission ging es an diesem Morgen in erster Linie darum, ob grünes Licht für den Deorbit Burn, den Wiedereintritt der Raumfähre in die Erdatmosphäre, gegeben werden konnte. Man hatte vorgehabt, das Shuttle in sechs Stunden abzukoppeln und die Zündung für das Verlassen der Umlaufbahn auszulösen. Der Wetterbericht machte ihnen einen Strich durch die Rechnung.
»Die Abteilung Raumfahrtmeteorologie des Nationalen Wetterdienstes meldet, dass der Wirbelsturm sich in Richtung Nord-Nordwest auf die Florida Keys zu bewegt«, sagte der Meteorologe. »Die Radarmessungen von Patrick Air Force Base und Melbourne weisen radiale Windgeschwindigkeiten von bis zu fünfundsechzig Knoten auf, bei stärker werdenden Niederschlägen. Die Wetterballons Rawinsonde und Jimsphere bestätigen
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