Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
allmählich der Euphorie weicht. Tag für Tag hatte sie an dieser Ausdauer gearbeitet, hatte sich durch schiere Hartnäckigkeit dazu getrieben, immer länger und weiter zu laufen, sich von Lauf zu Lauf immer wieder selbst zu übertrumpfen, ohne jemals nachzulassen. So war sie schon immer gewesen, auch schon als junges Mädchen: kleiner als die anderen, aber zäher, härter. Sie war immer schon hart gewesen, am härtesten jedoch stets gegen sich selbst.
    Ich habe Fehler gemacht. Und jetzt ist mein Patient tot.
Schweiß durchtränkte ihr Hemd; ein großer feuchter Fleck begann sich zwischen ihren Brüsten auszubreiten. Ihre Unter- und Oberschenkel waren bereits über das Stadium des Brennens hinaus. Die Muskeln zuckten, dem Kollaps nahe wegen des stetigen Widerstands der Halteriemen.
    Eine Hand griff nach dem Schalter und stellte den TVIS-Trainer ab. Das Laufband kam mit einem Ruck zum Stehen. Sie sah auf und begegnete Luthers Blick.
    »Ich denke, das ist mehr als genug, Watson«, sagte er leise. »Noch nicht ganz.«
    »Du bist schon über drei Stunden zugange.«
    »Ich komme gerade erst in Fahrt«, murmelte sie verbissen. Sie schaltete das Gerät wieder ein, und erneut hämmerten ihre Füße auf das Laufband ein.
    Luther sah ihr eine Weile zu. Er schwebte auf Augenhöhe vor ihr; sie konnte seinem Blick nicht ausweichen. Sie hasste es, beobachtet zu werden, hasste sogar
ihn
in diesem Moment, weil sie überzeugt war, dass er ihren Schmerz und ihre Selbstverachtung glatt durchschaute.
    »Wäre es nicht einfacher, du würdest gleich mit dem Kopf gegen die Wand rennen?«, meinte er.
    »Einfacher schon. Aber nicht schmerzhaft genug.«
    »Ich verstehe. Damit es eine Strafe ist, muss es auch ordentlich wehtun, hm?«
    »Stimmt.«
    »Würde es etwas ändern, wenn ich dir sagen würde, dass das Quatsch ist? Das ist es nämlich. Vergeudete Energie. Kenichi ist gestorben, weil er krank war.«
    »Und ich bin dazu da, Leute gesund zu machen.«
    »Und du konntest ihn nicht retten. Und jetzt bist du also die Versagerin vom Dienst, was?«
    »Stimmt genau.«
    »Da liegst du aber schief.
Ich
hab dir nämlich den Titel vor der Nase weggeschnappt.«
    »Soll das so eine Art Wettbewerb sein?«
    Wieder schaltete er den TVIR-Trainer aus. Wieder kam das Laufband zum Stehen. Er starrte ihr direkt in die Augen. Sein Blick war wütend. So unnachgiebig wie der ihre.
    »Weißt du noch, wie
ich
den Bock geschossen habe? Damals auf der
Columbia?
«
    Sie sagte nichts. Sie musste nichts sagen, denn keiner in der NASA hatte das vergessen. Es war vor vier Jahren passiert, auf einer Mission mit dem Ziel, einen Nachrichtensatelliten im Orbit zu reparieren. Luther war als Missionsspezialist dafür verantwortlich gewesen, den künstlichen Trabanten nach Abschluss der Reparaturen wieder in seine ursprüngliche Position zu bringen. Die Crew hatte den Satelliten von der Rampe im Nutzlastendock aus in den Weltraum katapultiert und zugesehen, wie er davongetrieben war. Die Steuerraketen hatten ihn auf seine korrekte Umlaufbahn gebracht.
    Dort angekommen, hatte er plötzlich auf keinerlei Befehle mehr reagiert. Er war im Orbit verreckt – ein Millionen Dollar teures Stück Schrott, das nutzlos um die Erde kreiste. Wer war für diese Kalamität verantwortlich?
    Ohne Zögern hatte man sogleich Luther die Schuld gegeben. In der Eile hatte er vergessen, wichtige Programmiercodes einzugeben. Das behauptete jedenfalls der private Vertragspartner. Luther bestand darauf, dass er die Codes eingegeben
hatte,
dass er für Fehler des Satellitenherstellers als Sündenbock herhalten sollte. Während die Öffentlichkeit nur wenig von der Kontroverse mitbekam, war die Geschichte innerhalb der NASA allseits bekannt. Luthers Flugeinsätze wurden immer weniger. Er war dazu verdammt, als Geisterastronaut sein Dasein zu fristen; immer noch im Korps, aber unsichtbar für diejenigen, die die Shuttle-Crews zusammenstellten.
    Was die ganze verfahrene Angelegenheit noch komplizierter machte, war die Tatsache, dass Luther schwarz war.
    Drei Jahre lang hatte er unter der unausgesprochenen Ächtung gelitten, und seine Verbitterung war gewachsen. Nur die Unterstützung seiner engsten Freunde unter den übrigen Astronauten – allen voran Emma – hatte ihn im Korps halten können. Er wusste, dass er nichts falsch gemacht hatte, aber in der NASA glaubte ihm kaum jemand. Er wusste auch, dass die Leute hinter seinem Rücken redeten. Luther war der Mann, den die Ewiggestrigen als Beweis dafür

Weitere Kostenlose Bücher