In der Schwebe
O’Leary steuerten ihre makabre Fracht durch die Luke in das Mitteldeck der
Discovery.
Hier, wo die Crew des Shuttles schlief und aß, würde die Leiche bis zur Landung aufbewahrt werden. O’Leary manövrierte sie in eine der horizontalen Kojen, die normalerweise als Schlafplatz dienten. Vor dem Start war die Koje zum provisorischen Krankenbett für den Patienten umgebaut worden. Jetzt würde sie als Behelfssarg für die Rückführung der Leiche dienen.
»Er passt nicht rein«, sagte O’Leary. »Ich glaube, die Leiche hat sich zu stark ausgedehnt. War sie zu hohen Temperaturen ausgesetzt?« Er sah Emma an.
»Nein. Die Temperatur in der
Sojus
war immer konstant.«
»Da haben wir das Problem«, sagte Jill. »Die Plastikfolie ist an der Lüftungsöffnung hängen geblieben.« Sie griff hinein und löste das verhedderte Stück. »Versucht es jetzt mal.«
Diesmal passte die Leiche hinein. O’Leary schloss die Abdeckplatte, um der Crew den Anblick zu ersparen.
Es folgte die feierliche Abschiedszeremonie der beiden Besatzungen. Kittredge zog Emma an sich und flüsterte: »Bei der nächsten Mission bist du meine erste Wahl, Watson.« Als sie sich wieder voneinander lösten, standen Emma Tränen in den Augen.
Das Ganze endete mit dem traditionellen Händedruck der beiden Kommandeure Griggs und Kittredge. Emma erhaschte noch einen letzten Blick auf die winkende Orbiter-Crew –
ihre
Crew –, dann wurden die Luken geschlossen. Zwar würde die
Discovery
noch weitere vierundzwanzig Stunden an der ISS angedockt bleiben, während die Crew sich ausruhte und das Abkopplungsmanöver vorbereitete, doch das Verschließen dieser luftdichten Luken hatte jeden unmittelbaren Kontakt zwischen ihnen beendet. Sie befanden sich wieder in zwei getrennten Raumfahrzeugen, die nur vorübergehend miteinander verbunden waren, wie zwei Libellen, die im Hochzeitstanz durch das Weltall schwebten.
Pilotin Jill Hewitt konnte keinen Schlaf finden.
Schlaflosigkeit war etwas völlig Neues für sie. Selbst in der Nacht vor einem Start gelang es ihr immer, mühelos in einen tiefen Schlummer zu fallen – im Vertrauen auf das Glück, das ihr ein Leben lang treu gewesen war und sie auch den nächsten Tag überstehen lassen würde. Sie war stolz darauf, noch nie Schlaftabletten gebraucht zu haben. Pillen waren etwas für Flattermänner, die sich ständig den Kopf zerbrachen über die tausend fürchterlichen Dinge, die passieren konnten. Etwas für Zwangsneurotiker. Als Marinepilotin hatte Jill reichlich Erfahrung mit lebensgefährlichen Situationen. Sie hatte Einsätze über dem Irak geflogen, war mit einem angeschlagenen Jet auf einem schwankenden Flugzeugträger gelandet und hatte sich mit dem Schleudersitz in eine stürmische See katapultiert. Sie war, so dachte sie, dem Tod schon so oft von der Schippe gesprungen, dass er es schließlich aufgegeben hatte und geschlagen seiner Wege gezogen war. Und deshalb konnte sie normalerweise nachts ausgezeichnet schlafen.
Aber heute Nacht wollte der Schlaf sich einfach nicht einstellen. Es war wegen der Leiche.
Niemand mochte in ihrer Nähe sein. Obwohl sie hinter der Abdeckung verborgen war, spürten alle ihre Gegenwart. Der Tod teilte ihren Lebensraum mit ihnen, warf seinen Schatten über ihre Abendmahlzeit und erstickte ihre üblichen Scherze im Ansatz. Er war das unerwünschte fünfte Mitglied ihrer Crew Als wollten sie davor fliehen, hatten Kittredge, O’Leary und Mercer ihre üblichen Schlafplätze verlassen und waren auf das Oberdeck umgezogen. Nur Jill war auf dem Mitteldeck geblieben, wie um den Männern zu beweisen, dass sie nicht so zart besaitet war, dass es ihr als Frau nichts ausmachte, ihr Schlafzimmer mit einer Leiche zu teilen.
Aber jetzt, im Dämmerlicht der künstlichen Nacht, musste sie feststellen, dass sie einfach nicht abschalten konnte. Ständig musste sie an das denken, was dort unter der Abdeckung lag. An Kenichi Hirai, als er noch gelebt hatte.
Sie erinnerte sich noch ganz deutlich an ihn, an sein blasses Gesicht, seine leise Stimme und sein schwarzes, drahtiges Haar. Einmal hatte sie während des Trainings in der Schwerelosigkeit mit der Hand seinen Kopf gestreift und war überrascht gewesen, wie borstig sein Haar sich anfühlte. Sie fragte sich, wie er jetzt wohl aussah. Plötzlich verspürte sie eine krankhafte Neugier, was aus seinem Gesicht geworden war, welche Veränderungen der Tod bewirkt hatte. Es war die gleiche Neugier, die sie als Kind dazu gebracht hatte, mit
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