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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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sagte Baedecker, »die ich sehr liebe und die, vermute ich, sehr weise ist; sie glaubt an die Vielfalt und das Geheimnis des Universums und nicht an das Übernatürliche.«
    Robert Sweet Medicine wartete. Nach einer Minute sagte er: »Wie lautet die Frage?«
    Baedecker strich sich über die Stirn und spürte den Sonnenbrand dort. Er zuckte die Achseln und mußte dabei an Scott denken. »Ich habe mich nur gefragt, was Sie darüber denken würden«, sagte er.
    Der alte Mann schnitt zwei weitere Stücke der Wurzel ab, nahm sie in den Mund, schob sie in die andere Wange und sagte langsam und deutlich: »Ich glaube, Ihre Freundin ist weise.« Baedecker kniff die Augen zusammen. Es mochte daran liegen, daß er seit Tagen nichts mehr gegessen hatte, oder an der vielen Zeit in der Sonne, oder an beidem, aber die Luft zwischen ihm und dem alten Cheyenne schien plötzlich zu flimmern und zu wabern wie Hitzeflimmern über einem Highway an einem Sommertag. »Glauben Sie auch nicht an das Übernatürliche?«
    Robert Sweet Medicine sah nach Osten. Baedecker folgte seinem Blick. Weit draußen, auf der Ebene, funkelte Sonnenlicht auf einem Fenster oder einer Windschutzscheibe. »Sie verstehen vielleicht mehr von Wissenschaft als ich«, sagte der alte Mann. »Wenn die natürliche Welt das Universum ist, was meinen Sie, wieviel verstehen wir dann davon? Ein Prozent?«
    »Nein«, sagte Baedecker. »Nicht so viel.«
    »Ein Prozent von einem Prozent?«
    »Vielleicht«, sagte Baedecker, obwohl er es bezweifelte, kaum daß er es ausgesprochen hatte. Er glaubte nicht, daß das Universum unendlich komplex war ein Zehntausendstel eines unendlichen Systems war immer noch ein unendliches System -, aber er spürte in seinem tiefsten Innern, daß selbst im begrenzten Reich grundlegender physikalischer Gesetze die Menschen nicht einmal ein Zehntausendstel aller Permutationen und Möglichkeiten ausgelotet hatten. »Weniger«, sagte er.
    Robert Sweet Medicine steckte das Taschenmesser ein und öffnete die Hände, wobei er die Finger spreizte wie Blütenblätter im Sonnenlicht. »Ihre Freundin ist weise«, sagte er. »Helfen Sie mir auf, Baedecker.«
    Er stand auf, nahm den alten Mann bei den Armen und bereitete sich darauf vor, fest zu ziehen, aber Robert Sweet Medicine wog überhaupt nichts. Der alte Mann erhob sich ohne Anstrengung von einem von ihnen auf die Füße, und Baedecker mußte einen Ausfallschritt nach hinten machen, damit er nicht fiel. Seine Unterarme kribbelten an den Stellen, wo der Cheyenne ihn fest hielt. Baedecker dachte sich, wenn sie sich nicht aneinander festhalten würden, würden sie sofort vom Boden empor schweben, zwei freigelassene Ballons, die über die Prärie von South Dakota dahintrieben.
    Der Indianer drückte Baedeckers Unterarme noch einmal und gab ihn dann frei. »Einen schönen Spaziergang den Berg hinauf, Baedecker«, sagte er. »Ich werde einen schönen Spaziergang den Berg hinunter haben, um Wasser zu holen und ihren stinkenden Abort zu benutzen. Aber es mißfällt mir, mich in die Büsche zu hocken; das ist nicht zivilisiert.«
    Der alte Mann nahm einen zwanzig Liter fassenden Kanister und ging langsam den Berghang hinab, wobei er einen komischen, plattfüßigen Gang anschlug. Er blieb einmal stehen und rief zurück: »Baedecker, wenn Sie eine Höhle da oben finden, eine sehr tiefe Höhle, erzählen Sie mir auf dem Rückweg davon.«
    Baedecker nickte und sah dem alten Mann nach, wie er davonschlurfte. Er kam erst auf die Idee, auf Wiedersehen zu sagen, als Robert Sweet Medicine schon um eine Wegbiegung verschwunden war.
     
    Baedecker brauchte fünfundvierzig Minuten, bis er den Gipfel erreicht hatte. Er fühlte sich nicht einmal außer Atem oder müde. Er fand keine Höhle.
    Die Aussicht von der Kuppe war die schönste, die er jemals auf der Erde gesehen hatte. Die Berge der Black Hills nahmen den gesamten Süden ein, wobei ab und zu ein vereinzelter verschneiter Gipfel über die bewaldeten Hänge emporragte. Oben wanderten eine Herde schwereloser Kumuluswolken von Westen nach Osten, was Baedecker an die Schafherde erinnerte, die er und Maggie auf dem Plateau des Uncompahgre beobachtet hatten. Im Norden erstreckten sich die rollenden braungrünen Ebenen, bis sie in der Ferne mit dem Dunst verschmolzen.
    Baedecker fand einen natürlichen Sessel aus zwei Felsbrocken und einem umgestürzten Baumstamm. Er ließ sich darauf nieder, machte die Augen zu und spürte das Sonnenlicht auf den Lidern. Die angenehme

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