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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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er fast seine sämtlichen Flüge absolviert hatte. Aus einer Höhe von zweihundert Seemeilen war der Mittelwesten ein Durcheinander grüner und brauner Farbtöne zwischen weißen Wolkenmassen gewesen. Vom Mond aus überhaupt nichts. Während des sechsunddreißigstündigen Aufenthalts auf dem Mond hatte Baedecker nicht einmal daran gedacht, nach den Vereinigten Staaten Ausschau zu halten.
    »Einfach nur ein echt netter Kerl. Nicht so überheblich wie manche berühmte Leute, die man kennenlernt, wissen Sie? Jammerschade mit seinem Knie.«
    Der Wasserturm war anders. Ein hohes, weißes Gebilde aus Metall hatte den alten grünen ersetzt. Dieses brannte in den goldenen, schrägen Strahlen der spätsommerlichen Abendsonne. Baedecker spürte, wie ihn irgendwo zwischen Herz und Hals ein seltsames Gefühl überkam. Nicht Nostalgie oder eine wiedererweckte Form von Heimweh. Baedecker wurde klar, daß es sich bei der aufwallenden Gefühlswoge, die durch ihn strömte, schlicht und ergreifend um Ehrfurcht angesichts einer unerwarteten Konfrontation mit Schönheit handelte. Denselben überraschten Schmerz hatte er als Kind an einem regnerischen Nachmittag im Art Institute von Chicago verspürt, als er vor einem Ölgemälde von Degas stand, das eine junge Ballerina mit einem Armvoll Orangen darstellte. Und er erlebte denselben stechenden Schmerz, als er seinen Sohn Scott purpurn, verschrumpelt, glitschig und kreischend wenige Sekunden nach der Geburt sah. Baedecker hatte keine Ahnung, weshalb er jetzt so empfand, aber unsichtbare Daumen drückten auf die Mulde am Halsansatz, und er verspürte ein Brennen hinter den Augen.
    »Ich wette, Sie erkennen die alte Heimat nicht wieder«, sagte Ackroyd. »Wie lange ist es her, seit Sie zum letzten Mal hier waren, Dick?«
    Glen Oak tauchte als Reihe vereinzelter Bäume auf, wuchs zu einer Ansammlung weißer Häuser und füllte schließlich die gesamte Windschutzscheibe aus. Die Straße machte an einer Sunoco-Tankstelle wieder eine Biegung, führte an einem alten Backsteinhaus vorbei, bei dem es sich, wie seine Mutter einmal gesagt hatte und wie Baedecker sich jetzt wieder erinnerte, um einen Bahnhof der unterirdischen Bahnlinie handelte, und zu einem weißen Schild mit der Aufschrift:
    GLEN OAK EINWOHNERZAHL 1275 ELEKTRONISCHE GESCHWINDIGKEITSKONTROLLEN.
    »Neunzehnhundertsechsundfünfzig«, sagte Baedecker.
    »Nein, 1957. Bei der Beerdigung meiner Mutter. Sie starb ein Jahr nach meinem Vater.«
    »Sie sind auf dem Friedhof Calvary begraben«, sagte Ackroyd, als erzählte er etwas völlig Neues.
    »Ja.«
    »Möchten Sie gern hinfahren? Bevor es dunkel wird? Würde mir nichts ausmachen zu warten.«
    »Nein.« Baedecker sah hastig nach links und war entsetzt angesichts der Vorstellung, er würde das Grab seiner Eltern besuchen, während Bill Ackroyd mit seinem Bonneville im Leerlauf draußen wartete. »Nein, danke, ich bin müde. Ich würde gerne ins Motel. Heißt das am nördlichen Stadtrand immer noch Day's End Inn?«
    Ackroyd kicherte und schlug auf das Lenkrad. »Herrgott, die alte Klitsche? Nein, Sir, das haben sie schon 1962 abgerissen, nachdem Jackie und ich von Lafayette hierher gezogen sind. Nein, das nächste wäre das Motel Six an der I-74, Ausfahrt Elmwood.«
    »Das wäre ausgezeichnet«, sagte Baedecker.
    »Oh, nee«, sagte Ackroyd und wandte Baedecker ein betroffenes Gesicht zu. »Ich meine, wir haben geplant, daß Sie bei uns bleiben, Dick. Ich meine, wir haben ausreichend Platz, und ich habe das Okay von Marge Seaton und dem Stadtrat. Das Motel Six liegt völlig abseits, zwanzig Minuten auf der Asphaltstraße.«
    Die Aspcaltstraße. So hatten alle in Glen Oak den geteerten Highway genannt, der gleichzeitig die Hauptstraße war. Vier Jahrzehnte waren vergangen, seit er diesen Ausdruck zum letzten Mal gehört hatte. Baedecker schüttelte den Kopf und sah zum Fenster hinaus, als sie langsam die Hauptstraße entlangfuhren. Der Geschäftsbezirk von Glen Oak war zweieinhalb Blocks lang. Bei den Gehwegen handelte es sich um drei Schichten hohe betonierte Streifen. Die Geschäftsfassaden waren dunkel, die schrägen Parkbuchten verlassen, abgesehen von einigen vereinzelten Pritschenwagen vor einer Taverne in der Nähe des Parks. Baedecker versuchte, die Bilder dieser resignierten Gebäude mit ihren flachen Fassaden in die Schablone seiner Erinnerung zu pressen, aber er fand wenig Übereinstimmung, lediglich den vagen Eindruck fehlender Häuser wie Zahnlücken in einem einst vertrauten

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