Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
verhallten. Die Sonne brannte sehr heiß, und die Beobachtung von Angelschnur und Blinker hatte bald etwas Hypnotisierendes. Die kleinen Wellen, die knapp zwei Meter tiefer gegen die moosbewachsenen Unterseiten der Brücke plätscherten, erzeugten die Illusion von Bewegung, als würden die beiden Bruchstücke der Brücke langsam über den Stausee treiben. Nach einer halben Stunde weckten Hitze und das Gefühl der Bewegung eine leichte Übelkeit in dem Jungen, ein pochendes Pulsieren von Schwindel. Er zog die Schnur ein, lehnte die Angel an das rissige Betongeländer und setzte sich auf die Straße. Es war zu heiß. Er zog die Schwimmweste aus und fühlte sich gleich besser, als der Schweiß auf seinem Rücken trocknete.
    Er war nicht sicher, wann ihm der Einfall kam, von einem Teil der Brücke auf den anderen zu springen. Die beiden Trümmer des gebrochenen Brückenbogens wurden nicht einmal durch zweieinhalb Meter Wasser voneinander getrennt. Der Straßenbelag des kleineren Teils befand sich knapp zwei Meter über der Wasseroberfläche, aber der größere Teil, auf dem Baedecker stand, hatte sich nicht so sehr abgesenkt wie der andere und lag dreißig Zentimeter höher, wodurch der Sprung noch einfacher aussah.
    Der Gedanke zu springen wurde rasch zum Zwang, einem Druck, der in Baedeckers Brust wuchs. Mehrmals schritt er zum Rand des Brückenbogens, plante seine Schritte, übte den Absprung. Aus irgend einem Grund glaubte er, daß sein Vater zufrieden und amüsiert sein würde, wenn er zurückkam und seinen Sohn auf dem anderen Abschnitt der Brücke fand. Er nahm einige Male allen Mut zusammen, fing an zu laufen, blieb stehen. Jedesmal spürte er, wie Angst ihm den Hals zuschnürte, und er kam mit auf dem rauhen Beton quietschenden Turnschuhen zum Stillstand. Er stand keuchend da, seine helle Haut brannte im Sonnenschein, das Gesicht vor Scham gerötet. Dann drehte er sich um, machte fünf große Schritte und sprang.
    Oder versuchte zu springen. Im letztmöglichen Augenblick versuchte er, seine Vorwärtsbewegung zu bremsen, aber sein rechter Fuß rutschte über den Rand des Brükkenbogens und er fiel. Es gelang ihm, sich in der Luft zu drehen, er verspürte einen gewaltigen Hieb in der Leibesmitte, und dann baumelte er Füße und Beine über dem Wasser, Ellbogen und Unterarme flach auf dem Straßenbelag.
    Er hatte sich verletzt. Seine Arme und Hände waren schlimm aufgeschürft, im Mund hatte er den Geschmack von Blut, Magen und Rippen taten mehr weh, als er je für möglich gehalten hätte. Er hatte nicht die Kraft, sich zur Oberfläche der Brücke hinaufzuziehen. Seine Knie baumelten unter der Ebene des Straßenbelags, und so sehr er sich bemühte, er konnte die Füße nicht so hoch heben, daß er auf dem rissigen Beton Halt gefunden hätte. Das Wasser des Sees schien einen Sog zu erzeugen, der drohte, ihn nach unten zu ziehen. Baedecker hörte auf zu zappeln und hing da; und nur der Reibungswiderstand seiner aufgeschürften Hände und Arme verhinderte, daß er rückwärts in den See rutschte. Mit seiner kindlichen Vorstellungskraft sah er die dunklen Tiefen unter der Brücke, konnte die versunkenen Bäume tief unter der Oberfläche ahnen und spürte regelrecht, wie er im schlammigen Boden des Sees versank. Er konnte sich die ertrunkenen Straßen und Häuser und Friedhöfe des Tals vorstellen, das zum Stausee geworden war, und alle warteten unter dem dunklen Gewässer. Warteten auf ihn.
    Sechzig Zentimeter vor Baedecker wuchs ein Unkraut aus einer schmalen Spalte im Straßenbelag. Er konnte es nicht erreichen. Und selbst wenn, hätte es sein Gewicht nicht gehalten. Er spürte, wie der rettende Druck auf zerschundenen Händen und Armen schwand. Seine Schultern schmerzten, und er wußte, es würde nur noch Minuten, möglicherweise Sekunden dauern, bis seine zitternden Arme den Dienst versagen und er über den heißen Beton nach hinten rutschen und sich dabei Arme und Hände noch mehr aufschürfen würde.
    Dann stieg der träumende Baedecker aus seinem Traum empor wie ein Taucher aus großer Tiefe und bemerkte den Wind und das flatternde Zelt und den Geruch des aufziehenden Regens, aber er konnte gleichzeitig so deutlich wie vor fünfundvierzig Jahren das konstante Knattern des näherkommenden Außenbordmotors hören, der verstummte, und dann spürte er die kräftigen Hände seines Vaters an den Seiten und hörte dessen Stimme. »Laß gehen, Richard. Spring. Alles in Ordnung. Ich habe dich. Laß gehen,

Weitere Kostenlose Bücher