Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
zusammen, als das Trommelfeuer des Donners über sie hinwegrollte. Ein paar Schritte entfernt brach das Zelt der Gavins im zunehmenden Sturm zusammen.
    »DAS SIND SECHS PUNKT ACHT«, schrie Tommy, während er eine imaginäre Wertungskarte in die Höhe hielt. Er hatte die Flasche fallen lassen, schwenkte aber die Zeltstange immer noch. Gavin bemühte sich, sich aus dem eingestürzten Zelt zu befreien, aber die Plane hüllte ihn ein wie ein orangefarbenes Leichentuch.
    »OKAY, SATAN, ZEIG DU, WAS DU KANNST«, brüllte Tommy und lachte hysterisch. »LASS SEHEN, OB DU SO GUT BIST, WIE DER ALTE BEHAUPTET.« Er machte eine Pirouette, stürzte um ein Haar und wahrte das Gleichgewicht zwei Meter über ihnen am Rand des Felsens. Baedecker sah, daß der Junge eine Erektion hatte. Maggie sagte Baedecker etwas ins Ohr, aber die Worte gingen im Donner unter.
    Die beiden gegabelten Blitze zuckten gleichzeitig hernieder, auf jeder Seite des Lagers einer. Baedecker wurde mehrere Sekunden geblendet, während denen er sich irrwitzigerweise an elektrische Eisenbahnen erinnerte, die er als Junge besessen hatte. Das Ozon, dachte er. Als er wieder sehen konnte, erblickte er Tommy, der lachend auf dem Felsen herumhüpfte, wo der zunehmende Wind ihm das Haar zerzauste. »NEUN PUNKT FÜNF!« schrie der Junge. »SAUGUT!«
    »Mach, daß du da runterkommst«, brüllte Gavin. Er hatte sich aus dem Zelt befreit und fuchtelte mit den Händen Zentimeter von Tommys Knöcheln entfernt. Der Junge tänzelte auf dem Felsen rückwärts.
    »MUSS JESUS NOCH AN DIE REIHE KOMMEN LASSEN«, schrie Tommy. »MUSS DEM MANN EINE CHANCE GEBEN ZU ZEIGEN, WAS ER DRAUF HAT, OB ER IMMER NOCH DA IST.«
    Gavin lief zum flacheren Ende des Steins und suchte nach Griffmulden. Blitze zuckten durch eine bauschige dunkle Wolke dicht über ihnen, explodierten aus ihr heraus und schlugen in den eine Meile östlich gelegenen Uncompahgre Peak ein.
    »FÜNF PUNKT FÜNF!« schrie Tommy. »DAS WAR JA WOHL NOCH NICHTS.«
    Gavin rutschte auf dem Felsen aus, glitt nach unten, fing wieder an zu klettern. Tommy tänzelte zur höchsten Spitze des Felsens zurück. »NOCH EINEN!« schrie er in den Wind. Jetzt konnte Baedecker den aufziehenden Regen hören und riechen, der wie ein schwerer Vorhang über die Tundra wanderte. »JAHWEH!« kreischte Tommy. »KOMM SCHON! LETZTE MÖGLICHKEIT, IN DAS SPIEL EINZUSTEIGEN, FALLS DU DICH NOCH HIER HERUMTREIBST, JAHWEH, DU ALTER FURZ, LETZTE MÖGLICHKEIT, NOCH PUNKTE ZU MACHEN ...«
    Alles geschah gleichzeitig. Die Zeltstange in der erhobenen Hand des Jungen leuchtete so grell wie eine Neonreklame, Tommys Haar stand vom Kopf ab und waberte wie ein Nest voller Schlangen, dann verschmolz die dunkle Gestalt Gavins mit der des Jungen, und die beiden fielen von dem Felsen, als die ganze Welt in Licht und Lärm explodierte und eine gewaltige Implosion Baedecker auf den Böden drückte und seine Sinne im Pulsieren reiner Energie ertränkte.
    Baedecker sollte nie erfahren, ob der Blitz den Felsen getroffen hatte oder nicht. Am Morgen fanden sie keine Spuren darauf. Als er wieder hören und sehen konnte, stellte Baedecker fest, daß er Maggie mit dem Körper abschirmte und sie im selben Augenblick versucht hatte, dasselbe mit ihm zu tun. Sie richteten sich beide auf und sahen sich um. Jetzt regnete es in Strömen. Nur Baedekkers Zelt hatte dem Sturm standgehalten. Tom Gavin lag auf Händen und Knien, hatte den Kopf gesenkt und keuchte; sein Gesicht, das man bei den Blitzschlägen erkennen konnte, war blaß. Tommy schlotterte und hatte sich auf dem nassen Boden in Embryonalhaltung zusammengerollt. Die Hände drückt er fest auf die Augen, und er schluchzte. Deedee kauerte über ihm, hielt ihn halb und schirmte ihn halb vor dem dunklen Himmel ab. Ihr T-Shirt klebte naß am Rücken, so daß man jede Ader sehen konnte. Das Gesicht hatte sie in den letzten Blitzschlägen aufgerichtet, bevor der Sturm nach Osten weiter zog, und Baedecker sah den Triumph darin. Und den Trotz.
    Maggie beugte sich zu Baedecker bis ihre nassen Haarsträhnen seine Wange berührten. »Zehn Punkt null«, sagte sie leise und küßte ihn.
    Es regnete den Rest der Nacht.
     
    Kurz vor Sonnenaufgang kamen sie zum Südgrat.
    »Das ist seltsam«, sagte Maggie. Baedecker nickte, worauf sie zehn Meter hinter Gavin weiterkletterten. Gavin hatte schon vor fünf Uhr zusammengepackt und war aufgebrochen, lange bevor das erste Licht der Morgendämmerung durch das graue Nieseln drang. Er hatte nur gesagt:

Weitere Kostenlose Bücher