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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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»Ich bin gekommen, um einen Berg zu besteigen. Das werde ich auch tun.« Weder Maggie noch Baedecker hatten es verstanden, aber sie waren mitgekommen. Baedecker konnte ihre beiden Zelte weit unten sehen, immer noch im Schatten des Uncompahgre. Es war ihnen gelungen, Gavins Zelt in der Nacht wieder aufzustellen, aber das von Tommy war vollkommen zerstört; Nylonfetzen wehten über die Tundra. Als Gavin und Baedecker sich in der Dunkelheit aufgemacht hatten, Schlafsack und Kleidung des Jungen zurückzubringen, hatten sie zwei weitere Whiskeyflaschen in den Trümmern des Zelts gefunden. Deedee erwähnte, daß sie aus der Hausbar stammten, die die Gavins für Gäste bereithielten.
    Jetzt verweilte Gavin auf dem Kamm, bis sie ihn eingeholt hatten. Sie waren schon deutlich über dreieinhalbtausend Metern Höhe. Sie waren direkt nach Osten zur Kammlinie geklettert und hatten den einfacheren Aufstieg von Süden außer acht gelassen. Baedeckers Herz schlug heftig, und er war erschöpft, aber es war eine Erschöpfung, mit der er fertigwerden und trotzdem ausreichend agieren konnte. Neben ihm stand Maggie mit rotem Gesicht und schwer atmend nach der Anstrengung. Baedecker berührte ihre Hand, da lächelte sie.
    »Da ist jemand«, sagte Gavin und deutete den Grat hinauf, wo sich jemand an einem steilen Abschnitt des Wegs abquälte.
    »Das ist Lude«, sagte Baedecker. Er konnte sehen, wie der Mann ausrutschte, fiel und sich wieder auf die Füße rappelte. »Er hat den Hanggleiter immer noch bei sich.« Gavin schüttelte den Kopf. »Warum bringt sich jemand für etwas so Sinnloses um?«
    »Wie sehne ich mich danach, mich in den endlosen Raum zu werfen«, sagte Maggie, »und über dem gräßlichen Abgrund zu schweben.«
    Baedecker und Gavin drehten sich um und sahen sie an.
    »Goethe«, sagte sie, als müßte sie sich verteidigen. Gavin nickte, rückte den Rucksack zurecht und ging weiter den Pfad entlang. Baedecker grinste sie an. »Du kannst dir den ersten Vers der Thanatopsis nicht merken, hm?« sagte er.
    Maggie zuckte die Achseln und grinste zurück. Gemeinsam schritten sie den Weg hinauf, dem lockenden Streifen des Sonnenlichts entgegen.
     
    Sie fanden die zerfetzten Überreste eines kleinen Zelts nahe der Dreitausendneunhundert-Meter-Marke. Hundert Meter weiter fanden sie das Mädchen namens Maria. Sie lehnte an einem Felsen, hatte die gefalteten Hände zwischen die Knie gepreßt und zitterte heftig, obwohl das direkte Sonnenlicht sie inzwischen alle mit einem goldenen Schein überzog.
    Sie hörte auch dann nicht auf zu zittern, als Maggie sie in einen Steppmantel gehüllt und mehrere Minuten in die Arme genommen hatte.
    »St ... St ... Sturm h ... h ... hat das Z ... Z ... Zelt in Stücke gerissen«, brachte sie zwischen zusammengebissenen und klappernden Zähnen heraus. »Alles ist n ... n ... naß ge ... ge ... geworden.«
    »Schon gut«, sagte Maggie.
    »M ... muß d ... den B ... B ... Berg hinauf.«
    »Heute nicht, junge Dame«, sagte Gavin. Er rieb dem Mädchen die Hände. Baedecker bemerkte, daß die Lippen des Mädchens grau waren, ihre Finger an den Spitzen weiß. »Unterkühlung«, sagte Gavin. »Sie gehen so schnell wie möglich wieder bergab.«
    »Sagen Sie L ... L ... Lude, es tut mir l ... l ... leid«, sagte sie und fing an zu weinen. Ihr Schluchzen wurde von Anfällen von Schüttelfrost begleitet.
    »Ich gehe mit Ihnen nach unten«, sagte Maggie. »Unten haben wir heißen Kaffee und Suppe.« Die beiden Frauen standen auf, die kleinere schlotterte immer noch unbeherrscht.
    »Ich komme mit nach unten«, sagte Baedecker.
    »Nein!« Maggies Stimme klang fest. Baedecker sah sie überrascht an. »Ich glaube, du solltest weiter gehen.« Ihre Augen sandten Baedecker eine Botschaft, aber er war nicht sicher, was für eine.
    »Sicher?« fragte er.
    »Sicher«, sagte sie. »Du mußt, Richard.«
    Baedecker nickte und drehte sich um, um Gavin zu folgen, als Maria rief: »Halt!« Immer noch zitternd kramte sie in ihrem Rucksack und holte ein rechteckiges Plastikkästchen heraus. Sie gab es Baedecker. »Lude hat ver ... vergessen, daß ich das bei mir habe. Er br ... braucht es.«
    »Nein«, sagte Gavin. »Das bringen wir ihm nicht.« Maria sah sie verständnislos an. »Aber d ... d ... das
    müssen Sie«, sagte sie. »Er br ... braucht es. Er hat es gestern vergessen.«
    »Nein«, sagte Gavin.
    »Wir bringen es ihm«, sagte Baedecker und verstaute das Kästchen in der Tasche seiner Fliegerjacke. Er zuckte mit keiner

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