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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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ergriff statt dessen ihre Hand. Mit der anderen Hand hielt sie Baedeckers Finger. Die drei standen ungefähr im Halbkreis. Deedee neigte den Kopf. »Danke, Herr«, sagte sie, »daß Du uns ermöglichst, die Vollkommenheit Deiner Schöpfung zu sehen und diesen Augenblick mit lieben Freunden zu teilen, die mit Hilfe des Heiligen Geistes die Wahrheit Deines Wortes erkennen werden. Wir bitten im Namen Jesu Christi. Amen.«
    Deedee tätschelte Baedeckers Hand und sah ihn an.
    »Es ist wunderbar«, sagte sie. Tränen standen ihr in den Augen. »Und geben Sie es zu, Richard«, sagte sie, »wünschen Sie sich nicht, Joan wäre hier, um es mit Ihnen zu teilen?«
     
    Das Lager bestand aus drei Zelten um einen hohen, flachen Felsbrocken herum, der mutterseelenallein im Mittelpunkt eines großen Kreises der Tundra stand. In dieser Höhe gab es kein Feuerholz mehr, abgesehen von den Zweigen des verkrüppelten Gestrüpps, das zwischen den Felsen wuchs, daher stellten sie ihre beiden Gasbrenner auf einen flachen Stein neben dem Felsbrocken und sahen in die blaue Propanflamme, während die Sterne herauskamen.
    Vor dem Essen legten sie ihre Route fest, während die Schatten von ›Wetterhorn‹ und ›Matterhorn‹ über die Hochebene fielen und langsam an den Terrassenwänden des Uncompahgre hinaufstiegen. »Da«, sagte Gavin und gab Baedecker das Fernglas. »Direkt am Ansatz des Südkamms.«
    Baedecker sah hindurch und erblickte ein flaches rotes Zelt zwischen den Schatten von Felsen. Zwei Gestalten bewegten sich um das Zelt herum, verstauten Ausrüstung und machten sich an einem kleinen Ofen zu schaffen. Baedecker gab das Fernglas zurück. »Ich sehe zwei von ihnen«, sagte er. »Ich frage mich, wo das Mädchen und der Junge, der den Hanggleiter trägt, stecken könnten.«
    »Da oben«, sagte Maggie und deutete auf den hohen Grat, wo gerade noch Sonnenlicht auf das Massiv fiel.
    Gavin justierte das Fernglas. »Ich sehe sie. Dieser Idiot schleppt immer noch den Drachen mit.«
    »Er kann doch nicht vorhaben, heute nacht zu fliegen, oder?« fragte Maggie.
    Gavin schüttelte den Kopf. »Nein, er ist noch Stunden vom Gipfel entfernt. Sie wollen nur vor Einbruch der Nacht so hoch sie können.« Er gab Maggie das Fernglas.
    »Früher Morgen wäre für sein Vorhaben am geeignetsten«, sagte Baedecker. »Starke Aufwinde. Nicht zuviel Wind.« Maggie reichte ihm das Fernglas, und Baedecker suchte den Grat zweimal ab, bis er die winzigen Gestalten fand, die hoch auf dem zerklüfteten Rückgrat des Berges gingen. Sonnenlicht beschien die rotgelbe Tragetasche, während der kleine Mann sich unter der Last des Bündels aus Aluminium und Dacron beugte. Die Frau folgte ihm in einigen Schritten Abstand und ging gebückt unter ihrer eigenen Last eines großen Rucksacks mit zwei Schlafsäcken. Vor Baedeckers Augen verschwand das Sonnenlicht vom Berg, und die beiden Gestalten waren nicht mehr von dem Durcheinander von Simsen und Felsbrocken auf dem Grat zu unterscheiden.
    »Oh-ooh«, sagte Maggie. Sie sah nach Westen. Die Sonne war noch nicht untergegangen, aber am Horizont hing ein Band blauschwarzer Wolken, die das letzte Tageslicht verschluckten.
    »Zieht wahrscheinlich vorbei«, sagte Gavin. »Der Wind weht Richtung Südost.«
    »Das hoffe ich«, sagte Maggie.
    Baedecker richtete das Fernglas wieder auf den Südgrat, aber die beiden menschlichen Gestalten waren so winzig, daß man sie im Heraufziehen von Nacht und Sturm nicht mehr sehen konnte.
    Über ihnen leuchteten weiterhin die Sterne, aber im Westen war alles in Finsternis gehüllt. Die vier Erwachsenen kauerten um die Gasbrenner und tranken heißen Tee, während Tommy eineinhalb Meter über ihnen auf dem Felsen saß und nach Norden sah. Es war sehr kalt und völlig windstill.
    »Sie haben Dicks Frau Joan nie kennengelernt, Maggie, oder?« fragte Deedee.
    »Nein«, sagte Maggie, »ich habe sie nicht kennengelernt.«
    »Joan ist eine wunderbare Frau«, sagte Deedee. »Sie besitzt die Geduld einer Heiligen. Ihre Persönlichkeit ist voll und ganz für so einen Campingausflug geeignet, weil sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen läßt. Sie erledigt alles so, wie sie es will.«
    »Wohin gehst du nach Colorado?« fragte Gavin Baedecker.
    »Oregon. Ich habe mir gedacht, ich mache einen Besuch bei Rockford.«
    »Rockford?« sagte Gavin. »Oh, Muldorff. Zu dumm mit seiner Krankheit.«
    »Welcher Krankheit?« fragte Baedecker.
    »Joan war die geduldigste Frau von allen«, sagte Deedee zu Maggie.

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