In der Stille der Nacht - Thriller
und warf es sich ins Gesicht. Er versuchte sich im Spiegel anzusehen, wollte wissen, ob er einigermaßen okay aussah, aber ihm fehlte der Mut. Er tupfte sich das Gesicht mit dem groben grünen Papier ab und ging.
Eine andere Schwester sah ihn den Gang entlang kommen, eine ältere Frau in blauer Schwesternuniform mit Hose. Als sie seine roten Augen sah, lächelte sie, legte den Kopf mitfühlend schief.
»Mr Welbeck?« Pat versuchte einen Bogen um sie herum zu machen. »Ich gehe mal einen Tee trinken«, nuschelte er.
»Die Ärzte brauchen bestimmt noch eine halbe Stunde bis
sie bei Ihrer Tante sind, also lassen Sie sich ruhig Zeit, keine Eile.«
Er wollte an ihr vorbei, aber sie trat auf ihn zu, berührte ihn am Ellbogen und ging leicht in die Knie, damit er aufsah. Er blieb stehen, sah sie an, denn er spürte, dass ihm die Kraft fehlte, sich ihr zu widersetzen.
»Es hat ihr an nichts gefehlt«, sagte sie. »Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen.«
Er nickte, holte tief Luft und versuchte weitere Tränen zu unterdrücken, legte dafür den Kopf in den Nacken.
Sie war eine kleine Frau. Über ihre Schulter hinweg sah er ein Zimmer mit einem drahtverstärkten Glasfenster, auf dem Glas klebten die Überreste von altem Klebeband. Gelbe Vorhänge mit rosa Dreiecken darauf. Und da war sie, saß aufrecht im Bett, die Haare über eine Schulter gelegt, wie ein Ölteppich, die Hände lagen auf der Bettdecke vor ihr, hinter ihr brannte ein Licht. Sie sah ihn an.
»… sie hat zwar ein paar wunde Stellen vom Liegen, aber alle sehr sauber und die Salzbäder scheinen auch zu helfen.«
Pat konnte den Blick nicht mehr von Aleesha wenden, und sie ihren nicht von ihm. Er glaubte, zu sehen, dass sich ihre Augen im Wiedererkennen weiteten, doch dann fragte er sich, ob es nicht vielleicht seine eigenen Augen waren, die größer wurden, weil er mehr von ihr in sich aufnehmen wollte.
Die Frau vor ihm sprach über wundgelegene Stellen, über das Heim, in dem Minnie wohnte, über einen Bericht und einen Test, aber er konnte sie nicht richtig hören, nur einzelne losgelöste Worte schwammen um ihn herum, über ihm, an seinen Ohren vorbei.
Ohne den Blickkontakt abzubrechen, scheinbar auch ohne
den Kopf zu bewegen, warf Aleesha die Bettdecke zurück, schwang die Füße seitlich aus dem Bett und stand auf. Eine ihrer Hände war verbunden, weiß abgepolstert. Sie hielt sie hoch und hielt seinem Blick auch dann noch stand, als sie schon auf ihn zuging. Sogar an der Tür und auch als ihnen die Trennwand die Sicht verstellte, hielten sie den Kontakt. Sie blieb an der Tür stehen, wartete darauf, dass die Schwester ging.
»Tut mir leid«, die Schwester fasste sich an die Brust. »Ich bin übrigens Stationsschwester Sarah, wie heißen Sie?«
Aleesha trat einen Schritt zurück, so dass eines ihrer Augen hinter dem Türrahmen verschwand, sie schien unsicher zu sein, ob es eine gute Idee war, sich mit dem Fremden zu unterhalten. Der Mut verließ sie ein bisschen und sie sah auf ihre verbundene Hand und ließ die Schultern hängen, als wollte sie wieder in den Raum zurückgehen, als würde sie von einer unsichtbaren Kraft dort hineingesogen.
»Roy.« Er trat beiseite, an der Schwester vorbei und streckte Aleesha die flache Hand entgegen, Handfläche nach oben. Er bot ihr keinen Handschlag an, sondern signalisierte vielmehr, dass er sie an der Hand nehmen und wegführen wollte. »Hallo.«
Aleesha sah auf seine Hand, zog angesichts seiner Unverfrorenheit eine Augenbraue hoch und erkannte wie verzweifelt der Mann sie brauchte.
Er sah umwerfend aus. Groß. Schmutzig blondes Haar so dicht, dass es abstand, nicht gegelt oder so, nicht die üblichen Stacheln, mit denen Jungs aussehen, als wären sie so eitel, dass sie Stunden vor dem Spiegel verbrachten. Das Kinn von Stoppeln in hundert verschiedenen Farben übersät, eine platte Nase, als hätte er einen Autounfall gehabt und Schultern
fast noch breiter als die Tür. Auch er hob eine Augenbraue, seine Augen lächelten traurig, waren blassblau.
Sie nahm die Hand nicht. Sie trat in den Raum zurück, wandte ihr Gesicht von ihm ab.
»Entschuldigung«, sagte die Schwester und blickte Aleesha leicht gekränkt an, »kennen Sie sich?«
»Ja«, sagte Pat, »ich bin ziemlich sicher, dass wir uns kennen, aber mir fällt nicht ein, woher.«
Aleesha drehte sich wieder zur Tür um. »Gehst du auf die St. Al’s?«
Pat schnaubte ein müdes Lachen. »Ich bin achtundzwanzig, ist schon lange her, dass
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