In der Strafkolonie
Verurteilte schienen sich miteinander
befreundet zu haben; der Verurteilte machte, so schwierig dies
bei der festen Einschnallung durchzuführen war, dem Soldaten
Zeichen; der Soldat beugte sich zu ihm; der Verurteilte flüsterte
ihm etwas zu, und der Soldat nickte.
Der Reisende ging dem Offizier nach und sagte: »Sie wissen
noch nicht, was ich tun will. Ich werde meine Ansicht über das
Verfahren dem Kommandanten zwar sagen, aber nicht in einer
Sitzung, sondern unter vier Augen; ich werde auch nicht so lan-
ge hier bleiben, daß ich irgendeiner Sitzung beigezogen werden
könnte; ich fahre schon morgen früh weg oder schiffe mich we-
nigstens ein.« Es sah nicht aus, als ob der Offizier zugehört hätte.
»Das Verfahren hat Sie also nicht überzeugt,« sagte er für sich
und lächelte, wie ein Alter über den Unsinn eines Kindes lächelt
und hinter dem Lächeln sein eigenes wirkliches Nachdenken
behält.
»Dann ist es also Zeit,« sagte er schließlich und blickte plötz-
lich mit hellen Augen, die irgendeine Aufforderung, irgendeinen
Aufruf zur Beteiligung enthielten, den Reisenden an.
»Wozu ist es Zeit?« fragte der Reisende unruhig, bekam aber
keine Antwort.
»Du bist frei,« sagte der Offizier zum Verurteilten in dessen
Sprache. Dieser glaubte es zuerst nicht. »Nun, frei bist du,« sagte
der Offizier. Zum erstenmal bekam das Gesicht des Verurteilten
wirkliches Leben. War es Wahrheit? War es nur eine Laune des
Offiziers, die vorübergehen konnte? Hatte der fremde Reisen-
de ihm Gnade erwirkt? Was war es? So schien sein Gesicht zu
fragen. Aber nicht lange. Was immer es sein mochte, er wollte,
wenn er durfte, wirklich frei sein und er begann sich zu rütteln,
soweit es die Egge erlaubte.
»Du zerreißt mir die Riemen,« schrie der Offizier, »sei ruhig!
Wir öffnen sie schon.« Und er machte sich mit dem Soldaten,
dem er ein Zeichen gab, an die Arbeit. Der Verurteilte lachte
ohne Worte leise vor sich hin, bald wendete er das Gesicht links
zum Offizier, bald rechts zum Soldaten, auch den Reisenden ver-
gaß er nicht.
»Zieh ihn heraus,« befahl der Offizier, dem Soldaten. Es muß-
te hierbei wegen der Egge einige Vorsicht angewendet werden.
Der Verurteilte hatte schon infolge seiner Ungeduld einige klei-
ne Rißwunden auf dem Rücken. Von jetzt ab kümmerte sich aber
der Offizier kaum mehr um ihn. Er ging auf den Reisenden zu,
zog wieder die kleine Ledermappe hervor, blätterte in ihr, fand
schließlich das Blatt, das er suchte, und zeigte es dem Reisenden.
»Lesen Sie,« sagte er. »Ich kann nicht,« sagte der Reisende, »ich
sagte schon, ich kann diese Blätter nicht lesen.« »Sehen Sie das
Blatt doch genau an,« sagte der Offizier und trat neben den Rei-
senden, um mit ihm zu lesen. Als auch das nichts half, fuhr er
mit dem kleinen Finger in großer Höhe, als dürfe das Blatt auf
keinen Fall berührt werden, über das Papier hin, um auf diese
Weise dem Reisenden das Lesen zu erleichtern. Der Reisende gab
sich auch Mühe, um wenigstens darin dem Offizier gefällig sein
zu können, aber es war ihm unmöglich. Nun begann der Offizier
die Aufschrift zu buchstabieren und dann las er sie noch einmal
im Zusammenhang. » ›Sei gerecht!‹ — heißt es,« sagte er, »jetzt
können Sie es doch lesen.« Der Reisende beugte sich so tief über
das Papier, daß der Offizier aus Angst vor einer Berührung es
weiter entfernte; nun sagte der Reisende zwar nichts mehr, aber
es war klar, daß er es noch immer nicht hatte lesen können. » ›Sei
gerecht!‹ — heißt es,« sagte der Offizier nochmals. »Mag sein,«
sagte der Reisende, »ich glaube es, daß es dort steht.« »Nun gut,«
sagte der Offizier, wenigstens teilweise befriedigt, und stieg mit
dem Blatt auf die Leiter; er bettete das Blatt mit großer Vorsicht
im Zeichner und ordnete das Räderwerk scheinbar gänzlich
um; es war eine sehr mühselige Arbeit, es mußte sich auch um
ganz kleine Räder handeln, manchmal verschwand der Kopf des
Offiziers völlig im Zeichner, so genau mußte er das Räderwerk
untersuchen.
Der Reisende verfolgte von unten diese Arbeit ununterbro-
chen, der Hals wurde ihm steif, und die Augen schmerzten ihn
von dem mit Sonnenlicht überschütteten Himmel. Der Soldat
und der Verurteilte waren nur miteinander beschäftigt. Das
Hemd und die Hose des Verurteilten, die schon in der Grube
lagen, wurden vom Soldaten mit der Bajonettspitze herausgezo-
gen. Das Hemd war
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