In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
Balkon dieses billigen Hotels in Zürich steht), bis ihm klar wird, dass er hier ein, zwei Sekunden länger verweilt, als er sollte – Missy, komm nicht auf dumme Gedanken -, worauf er sich umdreht und geht. Dabei sieht er sein eigenes geisterhaftes Ebenbild verschwommen über den vom Dampf beschlagenen Spiegel huschen.
Ihr Bruder
Rebeccas Familie ist auf ihre Weise ein Land für sich. Peter hat in sie eingeheiratet, wie er die Bräuche und Sagen, die besondere Geschichte eines Mädchens aus einem kleinen, abgelegenen Volk hätte heiraten können. Das Volk der Familie Taylor wäre solvent, aber nicht reich, regionalen Speisen und Handwerkskünsten zugetan, lax, was Zeitvorgaben und Zugfahrpläne angeht, an den Abhängen einer Gebirgskette versteckt, die so abschreckend ist, dass sie es vor Angreifern, Einwanderern und den meisten Ideen und Erfindungen schützt, die es nicht selbst hervorbringt. Missy wäre sein verwundeter Schutzpatron, dessen fahles, glasäugiges Bildnis alljährlich bei einem Umzug durch die Straßen zum Marktplatz getragen wird.
Vor Missy allerdings … Da war und ist immer noch das große, alte Giebeldachhaus, das allmählich durch die Hitze und Regengüsse von mehr als achtzig Sommern in Richmond rettungslos feucht wird. Da sind Cyrus (Professor für Linguistik, ein kleiner, auf eine ruhige Art selbstbewusster Mann mit einem Kopf wie Cicero) und Beverly (Kinderärztin, lebhaft und ironisch, auf eine trotzige Art gleichgültig, was Hausarbeiten angeht). Und da waren, sind, drei bezaubernde Töchter: Rosemary, Julianne und Rebecca, fünf Jahre auseinander. Rose war die Schönheit, ernst, nicht unfreundlich, aber auch nicht zu haben, das Mädchen, auf das immer ein älterer Junge mit einem Auto wartete. Julie war weniger hinreißend, aber leichter amüsiert, ein burschikoses Mädchen, laut und lustig, eine meisterhafte Turnerin, unverzeihlich sinnlich. Und dann war da Rebecca, dank ihrer beiden älteren Schwestern berühmt geboren; Rebecca, die klein und blass war, knabenhaft, keineswegs die Schönste, aber die Intelligenteste, die seit der achten Klasse den gleichen zurückhaltenden, Gitarre spielenden Freund hatte, deren Mädchenhaftigkeit (für Peter) durch das Foto im Jahrbuch verkörpert wird, auf dem sie die Krone der Schönheitskönigin beim Ehemaligentreffen trägt, die dazugehörigen Rosen hält und lachend (wer weiß, warum, vielleicht über die absurde Situation, in der sie sich befindet) in einem kurzen Glitzerkleid dasteht, flankiert von den beiden Zweitplatzierten, den Prinzessinnen, die strahlend in die Kamera lächeln und leicht phlegmatisch in ihrer Schönheit sind, nicht bemerkenswert, Nachkommen dieser kräftigen »heiratsfähigen« Mädchen, für die sich schon Jane Austen nicht besonders interessierte.
Und dann. Als Rebecca kurz vor dem Highschool-Abschluss stand, als Julia im zweiten Jahr am Barnard College war und Rose bereits an Scheidung dachte, kam Missy.
Beverly hatte sich vor Jahren die Eileiter abklemmen lassen. Sie war fünfundvierzig; Cyrus war über fünfzig. Beverly sagte: »Er muss unbedingt auf die Welt gewollt haben.« Diese Aussage wurde ernst genommen. Sie war schließlich Expertin, Kinderärztin, und neigte nicht zu romantischen Anwandlungen, was Kinder anbetraf.
Peter hatte Missy kennengelernt, als Rebecca ihn zum ersten Mal mit nach Richmond nahm. Er war nervös wegen des Familientreffens, verlegen, weil man das Ganze möglicherweise für ungehörig halten konnte – war es nicht ein bisschen unheimlich, wenn ein Student im letzten Semester mit einer Studienanfängerin aus seinem Seminar ging, auch wenn er bis Semesterschluss gewartet hatte? Rebeccas Vater war Professor; konnte Peter Rebecca wirklich und wahrhaftig glauben, wenn sie ihm versicherte, ihr Vater würde es nicht missbilligen?
»Halt den Mund «, sagte sie zu ihm, als das Flugzeug zur Landung ansetzte. »Hör auf, dir Gedanken zu machen. Sofort.«
Sie hatte diese berauschende Jungmädchensicherheit, sie hatte diesen breiten, singenden Virginia-Akzent. Sie hätte eine Krankenschwester in einem Krieg sein können.
Er versprach, es zu versuchen.
Dann stiegen sie aus dem Flugzeug, und da war Julie, lebhaft und freundlich wie ein Cowgirl, die vor dem Flughafen im alten Volvo der Familie auf sie wartete.
Und dann war da das Haus.
Das Foto, das Rebecca Peter gezeigt hatte, hatte ihn zwar schon darauf vorbereitet – die heruntergekommene Pracht, der Wirrwarr von Glyzinien und die
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