In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
die Künstler, die sie angenommen hat). Aber jetzt, an einem Sonntagnachmittag im Met, ist sie eine alte Frau, die in das Maul eines toten Hais blickt.
Peter geht hin und stellt sich neben sie. »Es ist eine eindrucksvolle Geste«, sagt er.
Hinter Peters und Bettes mattem Spiegelbild auf dem Glas klafft der Schlund des Hais – die Reihen der tödlichen Sägezähne und dahinter, weiß gesprenkelt, der eigentliche Abgrund, der den Farbton der Lösung annimmt, grauer und tiefer wird, während er sich in der inneren Dunkelheit des Hais verliert.
Bette hat Peter nicht die Wahrheit gesagt. Nicht die ganze Wahrheit. Der Chirurg hat den Krebs nicht vollständig entfernt, sie wird nicht wieder gesund werden. Peter erkennt das mit einer kribbelnden Unmittelbarkeit, ähnlich der kreatürlichen Wachsamkeit, die der Hai erzeugt. Ein winziges Stück Tonband in seinem Gehirn löscht sich von selbst, und er wird nie wissen, ob es ihm im Jojo oder erst später klar wurde, dass Bette tatsächlich sterben wird, und zwar eher früher als später. Deswegen schließt sie die Galerie sofort. Deswegen verlässt Jack die Columbia.
Peter streckt den Arm aus und nimmt ihre Hand. Es ist mehr oder weniger unwillkürlich, und erst als er sie berührt, hält er inne und fragt sich, ob das lächerlich ist, melodramatisch.Wird sie ihn zurechtweisen? Ihre Finger sind überraschend weich und kreppartig, die einer alten Frau. Sie drückt seine Hand kurz und behutsam. Die Hände halten einander ein paar Sekunden, dann lösen sie sich. Wenn die Geste übertrieben oder falsch war, wenn sie von Peters Seite eine Selbstinszenierung war, scheint es Bette nicht zu stören, nicht jetzt, nicht vor dem Hai.
Peter schließt die Tür zum Loft auf. Viertel nach vier. Er geht zur Küchenanrichte, stellt die Tüte ab, die das Excedrin und die Zahnseide enthält, die er besorgt hat (warum ist es in New York unmöglich auszugehen, ohne etwas zu kaufen?), streift seine Jacke ab, hängt sie auf. Als sich seine Ohren an die spezielle singende Stille seines Zuhauses gewöhnt haben, hört er die Dusche. Rebecca ist da. Gut. Oft ist er für ein bisschen Alleinsein ebenso dankbar wie Rebecca, wenn er heimkommt, aber nicht jetzt, nicht heute. Es ist schwer zu sagen, was er empfindet. Er wünschte, es wäre so einfach wie die Sorge um Bette. Es ist hohler als Sorge. Es ist eine tiefe Einsamkeit, durchsetzt mit einer untergründigen, fahrigen Furcht, wer weiß, wie man sie bezeichnen soll, aber er möchte seine Frau sehen, er möchte sich mit ihr einrollen, vielleicht irgendetwas Dämliches im Fernsehen anschauen, die Welt für die Nacht dunkel werden lassen, sie fallenlassen.
Peter geht durchs Schlafzimmer zum Badezimmer. Da ist sie, rosig und verschwommen hinter der Strukturglastür der Dusche. Vergänglichkeit liegt in der Luft, und im Wasser sind Haie, aber es gibt auch das hier, Rebecca, die eine Dusche nimmt, der mit Dampf beschlagene Frisierspiegel, das nach Seife riechende Badezimmer und der andere Nebengeruch, den Peter nur als sauber bezeichnen kann.
Er öffnet die Tür der Dusche.
Rebecca ist wieder jung. Sie steht in der Kabine und ist von Peter abgewandt, die Haare kurz, der Rücken kräftig und gerade vom Schwimmen; sie ist halb vom Dampf verhüllt, und einen Moment lang ist alles unglaublich nachvollziehbar: Bettes Hand in Peters, und der Mann-Junge von Rodin, der darauf wartet, dass ihn die Jahrhunderte begraben, und Rebecca, die in der Dusche die letzten zwanzig Jahre wegspült, wieder ein Mädchen ist.
Sie dreht sich überrascht um.
Es ist nicht Rebecca. Es ist Missy. Es ist das Missgeschick.
Richtig. Die festen, quadratischen Platten seiner Brustmuskeln, das V seiner Hüfte; hier ist der kleine dunkle Schamhaarbusch,sein rosigbraun vorspringender Schwanz.
»Hey«, sagt er freundlich zu Peter.Von Peter nackt gesehen zu werden ist Missy offenbar nicht einmal annähernd unangenehm.
»Hey«, antwortet Peter. »Sorry.«
Er tritt zurück, schließt die Tür zur Dusche. Missy war schon immer schamlos, nein, eher ohne Scham, satyrhaft, so unbefangen gegenüber Nacktheit oder biologischen Funktionen, dass er fast jeden anderen wie eine viktorianische Tante wirken lässt. Bei geschlossener Duschtür kann Peter nur die fleischliche rosige Silhouette sehen, und obwohl Peter weiß, dass es Missy (Ethan) ist, stellt er fest, dass er innehält, an die junge Rebecca denkt (wie sie in die Brandung läuft, aus einem weißen Baumwollkleid schlüpft, auf dem
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