In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
Formaldehyd-Tank schwebt?
Peters Magen rebelliert. Die Beschwerden sind nach dem Essen schlimmer. Er sollte vermutlich zu einem Arzt gehen.
»Hm«, sagt Bette.
»Hm.«
Es muss etwas mit der perfekten Präsentation zu tun haben, denkt Peter – dem mächtigen, aber makellos weißen Stahltank (zweiundzwanzig Tonnen), der azurblauen Lösung, in der die Kreatur schwebt. Der Hai ist so gänzlich gebändigt, so absolut tot, die Augen sind trüb, die Haut ist grau und verrunzelt. Und dennoch …
»Es hat schon etwas, ihn hier zu sehen«, sagt Bette.
»Es hat etwas.«
The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living . Ja, es hat etwas.
Drei Mädchen und ein Junge, vierzehn oder fünfzehn, umkreisen nervös den Tank, entsetzt, und überlegen, wie sie sich darüber lustig machen können. Ein kleiner Junge hält die Hand seines Vaters und sagt: »Das ist gruslig?« – als stelle er eine Frage. Ein Paar mittleren Alters steht beim Schwanz des Hais, zusammengedrängt, und unterhält sich ernst in etwas, das wie Spanisch klingt, sie beraten sich, als wären sie losgeschickt worden, um etwas Schmerzhaftes, aber Notwendiges für ein übergeordnetes Wohl zu unternehmen.
Bette sagt: »Das hier ist ein Weibchen.«
»Meinst du, sie hätten den ersten behalten sollen?«
»Steve Cohen hätte nie und nimmer acht Millionen Dollar bezahlt und einfach zugesehen, wie sich das gottverdammte Ding zersetzt.«
»Nein. Niemals.«
»Es ist ein bisschen schwer, es in diesem Moment einzusehen«, sagt Bette. »Ich meine, da ist das Objekt, und dann ist da Hirsts Karriere, von Hirst persönlich ganz zu schweigen, und da sind Cohens acht Millionen und das Met, wo man es für gewagt hält, etwas zu zeigen, was es schon fast zwanzig Jahre lang gibt …«
Die Highschool-Kids versammeln sich um die Leibesmitte des Hais, zittern beinahe vor Angst, Sexualität und Verachtung, sprechen leise in ihrer eigenen Sprache (Peter schnappt Fetzen auf: »- du bist so ein Schisser« »- niemals -« »- Thomas, Esme und Prue -«). Eins der Mädchen legt eine Hand an das Glas, zieht sie rasch wieder weg. Die beiden anderen Mädchen kreischen und rennen aus dem Raum, als habe ihre Freundin Alarm ausgelöst.
Bette schreitet zur Vorderseite des Tanks, beugt sich leicht vor und blickt in das offene Maul des Hais. Das Mädchen, das das Glas berührt hat, bleibt, der Junge steht neben ihr. Sie befingert die Naht seiner Jeans. Ein junges Liebespaar also. Das Gesicht des Mädchens ist resolut, mit kleinem Mund, hat etwas Frommes an sich – sie könnte eine Amische sein, wenn man sich das Courtney-Love-T-Shirt und die grüne Lederjacke wegdenkt. Ein gut aussehendes und vermutlich intelligentes Mädchen, das neben seinem Freund (der schwul ist, jeder kann es sehen, weiß er es schon, weiß sie es?) einen Hai betrachtet, und Peter ist kurz in sie verliebt, oder jedenfalls in diejenige, die sie werden wird (er sieht sie in zehn Jahren, in einem engen kleinen, funkelnden Kleid, lachend, irgendwo bei einer Party), und dann flüstert ihr der Junge etwas zu, und sie gehen, und Peter wird sie nie wiedersehen.
Bea ist auf eine Art und Weise wütend auf ihn, die ihm endgültig vorkommt, aber hey, sie ist erst zwanzig. Trotzdem. Da droben in Boston geht sie ein; sie ist dünn und blass und verkniffen, keine Freunde, keine erkennbaren Vorlieben, außer ihrer Entschlossenheit, etwas Praktisches mit ihrem Leben anzufangen, ihrer Überzeugung, dass Kunst lächerlich ist, womit sie meint, dass Peter lächerlich ist, womit sie meint, er hätte sie all die Jahre dazu verführt, ihn zu sehr zu lieben und Rebecca zu wenig, was, wie ihr unlängst klar geworden ist, die Ursache ihrer ständigen Einsamkeit und immer wiederkehrenden Depressionen ist, ihrer enttäuschenden Erfahrungen mit Männern und ihrer Schwierigkeiten, sich Frauen anzuschließen.
»Er ist beeindruckend«, sagt Bette über den Hai. »Man denkt sich, oh, es ist eine Geste, es ist bloß ein toter Hai, jedes Naturkundemuseum ist voll davon, aber dann steht man in einer Galerie vor ihm, und, na ja …«
Bette ist mit dem Alter fußlastig geworden. Sie trägt schwarze Reeboks. Als sie sich furchtlos zum Maul des Hais beugt, ist sie anrührend, aber nicht heroisch – nein, sie ist vielleicht auf ihre Art heroisch, aber nicht stark, sie besitzt nicht einmal Ahabs verhängnisvolle und fanatische Größe, obwohl es in ihrem Leben durchaus ein gewisses Maß an verrückter Überzeugung gegeben hat (denk an
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