In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
breite, schattige vordere Veranda -, aber nicht auf die Lage des Hauses, nicht auf die schäbigen Wunder des ganzen Straßenzugs, ein bezaubernd matronenhaftes Haus nach dem anderen, manche besser gepflegt als andere, aber keines renoviert oder restauriert; offenbar war das keine solche Gegend, Richmond war vermutlich keine solche Stadt.
»Mein Gott«, sagte Peter, als sie vorfuhren.
»Was ist?«, fragte Julie.
»Sagen wir einfach, es ist ein wunderbares Leben.«
Julie warf Rebecca einen kurzen Blick zu. Oh, richtig, einer von diesen sehr, sehr schlauen Jungs .
Eigentlich hatte er nicht zynisch klingen wollen, nicht einmal besonders schlau. Er war weit davon entfernt. Er war dabei, sich zu verlieben.
Als das Wochenende vorüber war, hatte er den Überblick verloren, in was er alles vernarrt war. Da war Cyrus’ Arbeitszimmer – ein Arbeitszimmer! – mit dem ungemein bequemen Sessel mit der geschwungenen Lehne, in dem man ewig sitzen und lesen konnte. Da war Beverlys mit Beifall bedachter (wenn auch misslungener) Versuch, Peter mit einem selbstgebackenen Kuchen zu beeindrucken (der hinterher als »der gottverdammte ungenießbare Kuchen« bezeichnet wurde). Da war das Fenster im Obergeschoss, durch das die Mädchen abends ausgebüxt waren, da waren die drei arroganten und trägen Katzen, die Regale voller Bücher, älterer Brettspiele, Muscheln aus Florida und gerahmter, ziemlich willkürlich wirkender Fotos, der schwache Geruch nach Lavendel, Schimmel und Kaminrauch, die Korbschaukel auf der Veranda, auf der jemand eine regenfleckige Taschenbuchausgabe von Daniel Deronda liegengelassen hatte.
Und da war Missy, der demnächst vier wurde.
Niemand mochte das Wort »frühreif«. Es hatte etwas Verhängnisvolles an sich. Aber Missy hatte sich mit vier das Lesen beigebracht. Er erinnerte sich an jedes Wort, das in seinem Beisein gesprochen wurde, und konnte es von da an in seine Sätze einbauen, wenn auch oft nicht richtig.
Er war ein ernster und skeptischer Junge, der zu gelegentlichen Heiterkeitsausbrüchen neigte, obwohl man nicht voraussagen konnte, was ihm komisch vorkam. Er war hübsch, ziemlich hübsch, mit einer hohen, blassen Stirn, glänzenden Augen und einem ausgeprägten, zarten Mund – seinerzeit schien es so, als könnte er zu einem schönen Prinzchen heranwachsen oder, ebenso vorstellbar, zu einem Ludwig von Bayern, mit einer hochgewölbten, von Adern durchzogenen Stirn und Augen voller irrlichternder Sensibilität.
Und er hatte (Gott sei Dank) kindliche Zuneigungen und Vorlieben neben seinen unheimlichen Gaben. Er liebte Brausebonbons, besonders Pop Rocks, und, mit einer geradezu beunruhigenden Hingabe, die Farbe Blau. Er war von Abraham Lincoln fasziniert, der, wie Missy wusste, Präsident war, aber auch, darauf bestand er, übermenschliche Kräfte besaß sowie die Fähigkeit, ausgewachsene Bäume aus dürrem Boden hervorzuzaubern.
An diesem Abend, im Bett (die Taylors, so schien es, gingen einfach davon aus), sagte Peter zu Rebecca: »Das ist so unglaublich zauberhaft.«
»Was?«
»Alles. Jeder und alles.«
»Es ist bloß meine verrückte Familie und mein knarrendes altes Haus.«
Sie glaubte das. Sie wollte nicht kokettieren.
Er sagte: »Du hast ja keine Ahnung …«
»Von was?«
»Wie normal die meisten Familien sind.«
»Meinst du, meine Familie ist abnormal?«
»Nein. ›Normal‹ ist nicht das richtige Wort. Prosaisch. Durchschnittlich.«
»Ich glaube nicht, dass irgendjemand prosaisch ist. Manche Menschen sind nur exzentrischer als andere.«
Milwaukee, Rebecca. Ordnung, Nüchternheit und ein Drang zur Sauberkeit, der einem die Seele wund scheuert. Anständige Menschen, die ihr Bestes geben, um ein anständiges Leben zu führen, nichts, wofür man sie hassen müsste, sie machen ihre Arbeit, pflegen ihre Häuser und lieben ihre Kinder (meistens), sie fahren in den Familienurlaub, besuchen Verwandte und schmücken zu Weihnachten ihre Häuser, sammeln ein paar Sachen und sparen für irgendetwas; es sind gute Menschen (die meisten, meistens), aber wenn du an meiner Stelle wärst, wenn du ein junger Pete Harris wärst, würdest du spüren, wie diese ganze Bescheidenheit an dir frisst, dich entvölkert, all diese kleinen Befriedigungen, aber keine großen, gefährlichen, kein Heroismus, kein Genie, keine schreckliche Sehnsucht nach etwas, was man zumindest theoretisch nicht tatsächlich haben kann.Wenn du ein von Pusteln und strähnigen Haaren geplagter Pete Harris wärst, hättest
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