In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
gleich da vorn sind ihre Geweihten, die Frauen vom zentralen Kiosk, zumeist älter, freundlich wirkend, die darauf warten, einem unter dem riesigen Blumenarrangement (zurzeit Kirschblüten), das die Luft über ihren Köpfen mit Blüten und Blättern schmückt, Informationen anzubieten.
Peter zahlt den Eintritt (Bette hat das Essen bezahlt). Sie klemmen sich die kleinen Metallringe an (diese Dinger müssen einen Namen haben, wie könnte der lauten?), er an sein Sakko, sie an den Ausschnitt ihres schwarzen Baumwollpullis, worauf ihrer beider Aufmerksamkeit einen Moment lang auf ihr vorspringendes, sommersprossiges Schlüsselbein gelenkt wird, auf die kleine Ansammlung von Runzeln, wie gefältelter Stoff, die sich zwischen ihren Brüsten in die Haut gegraben haben. Bette weiß, dass Peter hinschaut, und wirft ihm einen Blick zu, den er nur als verstörtes Flirten bezeichnen kann – eine wilde Sinnlichkeit, nicht direkt sexuell, aber mit etwas aufgeladen, das aus Sex und Trotz besteht, ein ähnlicher Blick, wie ihn Helena auf die Trojanergerichtet haben muss. Bette Rice, eine Königin, von Alter und Krankheit geraubt.
Er passt sich auf der Treppe Bette an, die im Rauchertempo hinaufsteigt. Sie hat vor dem Museum gerade eine Marlboro Light gepafft und in Erwiderung auf den skeptischen Blick, gegen den sich Peter entschieden hatte, gesagt: »Glaub mir, wenn man Angst vor Krebs hat, ist es nicht der richtige Zeitpunkt, mit dem Rauchen aufzuhören.«
Am Kopf der Treppe triumphiert immer noch Tiepolos Marius. Der Junge schlägt immer noch sein Tamburin.
Auf dem Weg zu den zeitgenössischen Galerien hält Peter vor dem Rodin am Eingang zu den Europäern des neunzehnten Jahrhunderts inne. Bette geht ein paar Schritte voraus, dreht sich um und kommt zurück.
»Noch da?«, sagt sie. Sie sind wegen dem Hirst gekommem, warum bleibt Peter stehen? Hat er den Rodin nicht schon tausendmal gesehen?
Peter sagt: »Du weißt doch …«
»Ja?«
»Wie einen manchmal etwas anspringt?«
»Heute springt dich der Rodin an?«
»Ja. Ich weiß nicht, warum.«
Bette stellt sich mit dieser Alligatorenmutterruhe, die sie manchmal aufbringen kann, neben ihn. So war sie vermutlich zu ihren Söhnen gewesen, als sie klein waren, wenn sie von etwas fasziniert waren, das sie selbst langweilte – diese bewusste, aber auch wohlwollende Bereitschaft. Das dürfte dazu beigetragen haben, dass sie sich ganz gut entwickelt hatten.
Sie sagt: »Man kann seine Verdienste nicht bestreiten.«
»Nein.«
Hier ist wie immer Auguste Neyt, alias Der Besiegte , alias Das Eherne Zeitalter : ein perfektes Mann-Kind aus Bronze, genau lebensgroß, schlank und geschmeidig, in einer Hand den unsichtbaren Speer. Rodin war noch unbekannt, als er diesen nackten Mann modellierte und goss, ohne altgriechische Muskulatur oder die französische Vorliebe für die Allegorie; Rodin, damals noch unbedeutend, sollte, wie sich mit der Zeit erwies, recht behalten – das Heroische war am Aussterben, das Reale kam und sollte lange, lange bleiben. Jetzt ist Rodin gewesen und vergangen, und ja, natürlich ist er Geschichte, aber neue Künstler verehren ihn nicht, niemand geht auf Pilgerreise, man nimmt ihn in der Schule durch, man geht auf dem Weg zu Damien Hirst an seinen Skulpturen und Skizzen vorbei.
Dennoch, es ist verfluchte Bronze, es könnte ewig halten (hat Koenigs Sphere nicht 9/11 überstanden?). Außerirdische Archäologen könnten sie eines Tages ausgraben, und wirklich, wäre es so ein schlechter Hinweis darauf, wer und was wir waren? Auguste Neyt, bis dahin schon Jahrhunderte tot, sein Name vergessen, aber seine Gestalt konserviert, nackt, nicht idealisiert, lediglich jung und gesund, der sein Leben noch vor sich hat.
»Okay?«, sagt Bette.
»Okay.«
Sie laufen schweigend und zielstrebig an dem Carrière und Puvis de Chavannes vorbei, an Gérômes Pygmalion, der Galatea küsst. Am anderen Ende der Galerie biegen sie ab, passieren Buch- und Geschenkeladen, biegen erneut ab.
Und da ist er, der Hai, der in seinem hellblauen, seltsam hübschen Formaldehyd schwebt; da ist die tödlich perfekte Form, und hier ist sein Maul, groß wie ein Fass, das gezackte Gebiss – gibt es ein anderes Lebewesen, das so eindeutig als ein von einem Körper voranbewegtes Maul angelegt ist?
Es bleibt ein Schock; er erzeugt noch immer das Prickeln animalischer Panik auf Peters Haut. Was natürlich eine der Fragen ist.Wer wird nicht von einem vier Meter langen Hai berührt, der in einem
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