Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

Titel: In die Nacht hinein: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Cunningham
Vom Netzwerk:
du ständig das Gefühl, du müsstest davonlaufen vor der Sicherheit deines Lebens, seiner unerschütterlichen Vernünftigkeit, dieser protestantischen Liebe zum Gewöhnlichen, der ewigen Gewissheit der Gläubigen, dass Extravaganz und das Makabre nicht nur bedrohlich, sondern – schlimmer noch – uninteressant sind.
    Ist es ein Wunder, dass Matthew zwei Tage nach dem Highschool-Abschluss von dort abgehauen ist und mit der Hälfte aller Männer in New York geschlafen hat?
    Nein, mach das nicht, es ist giftig, es ist falsch. Milwaukee hat deinen Bruder nicht umgebracht.
    Rebecca sagte: »Wenn du hier aufgewachsen wärst, hättest du zu dem Ganzen vermutlich eine etwas weniger romantische Einstellung.«
    »Dann möchte ich so lange eine romantische Einstellung dazu haben, wie ich kann. Missy hat mir vor dem Abendessen die Geschichte von Abraham Lincoln erzählt.«
    »Er erzählt jedem die Geschichte von Abraham Lincoln.«
    »Die er anscheinend mit Superman und Johnny Apfelkern durcheinanderbringt.«
    »Ich weiß. Er muss vieles kompensieren. Wir sind alle weg, und Mom ist ein bisschen, ich weiß nicht. Drüber hinaus. Sie liebt ihn abgöttisch. Aber sie ist mit ihrer Mutterrolle von Anfang an kaum klargekommen.Als ich klein war, waren es Rose und Julie, die mir Geschichten vorgelesen und bei den Hausaufgaben und dergleichen geholfen haben.«
    »Julie mag mich nicht, oder?«
    »Wie kommst du denn darauf?«
    »Ich weiß es nicht. Ein Gefühl, nehme ich an.«
    »Sie ist fürsorglich, das ist alles. Was komisch ist. Sie ist die Wilde.«
    »Das ist sie, was?«
    »Ach, jetzt vermutlich nicht mehr so. Aber in der Highschool …«
    »War sie wild.«
    »M-hm.«
    »Wie wild?«
    »Ich weiß nicht. Richtig wild. Sie hat mit verschiedenen Jungs geschlafen, das ist alles.«
    »Erzähl mir ein, zwei Geschichten.«
    »Törnt dich das etwa an?«
    »Ein bisschen.«
    »Wir reden von meiner Schwester.«
    »Erzähl mir einfach eine Geschichte.«
    »Männer sind ja so pervers.«
    »Du nicht?«
    »Okay, Charlie. Eine Geschichte.«
    » Charlie? «
    »Ich habe keine Ahnung, weshalb ich dich so genannt habe.«
    »Eine Geschichte, komm schon.«
    Sie lag auf dem Rücken und hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt, schlank und burschikos. Sie waren in der von den Taylors so genannten Rumpelkammer, weil sie das einzige Zimmer außer dem von Cyrus und Beverly war, in dem ein Doppelbett stand. Es war einst ein Gästezimmer gewesen, aber da die Taylors für Gerümpel mehr Verwendung hatten als für Gäste, nutzten sie es schon lange zum Einlagern und gingen davon aus, dass sie unter Entschuldigungen jederzeit gelegentliche Gäste dort unterbringen konnten. Am anderen Ende des Zimmers fiel der fahle Mondschein von Virginia auf einen Teil einer abgedeckten Nähmaschine, drei Paar Skier, einen Haufen mit »Wnachten« gekennzeichneter Pappkartons und die Taylorsche Sammlung von Gegenständen, die repariert werden würden, sobald jemand Zeit dafür hatte: eine unglaubliche rosa Kommode ohne Schubladengriffe, ein Stapel uralter Bettüberwürfe, ein angeschlagener heiliger Franziskus aus Gips, der für den Vorgarten gedacht war, ein auf einem Brett angebrachter Marlin (woher, um alles auf der Welt, kam der, und warum sollte man so etwas aufheben wollen?) und ein wie ein erloschener Mond auf einem hohen Regal stehender Globus, der aufleuchten würde, sobald jemand daran dachte, die Spezialbirne zu besorgen, die dazu erforderlich war. Es gab noch mehr, erheblich mehr, das wie eine Schar Seelen im Fegefeuer in der tieferen Dunkelheit hinter dem zaghaften Strahl wartete, der durchs Fenster fiel.
    Manche – viele – hätten diesen Raum bedrückend gefunden, wären sogar vom ganzen Haus der Taylors und ihrem ganzen Leben entnervt gewesen. Peter war verzaubert. Er war unter Menschen, die zu beschäftigt waren (mit Studenten, mit Patienten, mit Büchern), um alles in bester Ordnung zu halten, Menschen, die lieber Gartenfeste oder Spielabende abhielten, als die Fliesenfugen mit einer Zahnbürste zu reinigen (obwohl die Taylorschen Fugen wenigstens ein bisschen Beachtung hätten gebrauchen können). Hier war der lebendige Gegensatz zu seiner Kindheit, zu all den starren Abenden, wenn man um halb sieben mit dem Essen fertig war und noch mindestens vier Stunden vor sich hatte, bevor jemand vernünftigerweise zu Bett gehen konnte.
    Hier war Rebecca, die neben ihm lag. Rebecca, die in diesem Haus so gedankenlos wohnte wie eine Nixe in einem gesunkenen

Weitere Kostenlose Bücher