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In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

Titel: In die Nacht hinein: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Cunningham
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Glitzerkleider, eines grün und eines rotbraun, im Schaufenster des stratosphärisch teuren kleinen Ladens, der wahrscheinlich bald schließen wird; für Geschäfte von diesem Niveau ist die Mercer noch immer eine kleine Seitengasse. Wie die meisten Fenster in New York ist Peters ein lebendes Porträt. Tagsüber kann man die Fußgänger auf etwa zehn Metern ihres Lebenswegs sehen. Bei Nacht könnte die Straße ein hochauflösendes Bild ihrer selbst sein. Wenn man sie lange genug betrachtet, kann sie einem vorkommen wie ein Nauman, wie Mapping the Studio – die seltsame Faszination, die sich allmählich entwickelt, während man eine Katze betrachtet, einen Nachtfalter, eine Maus, die durch diese angeblich verlassenen nächtlichen Räume flitzt; das zunehmende Gefühl, dass Räume nie verlassen sind, dass immer etwas da ist, nicht nur heimliches tierisches Leben, sondern auch ihr unbeseeltes Eigenleben, die Papierhaufen und halbleeren Kaffeebecher, die alle zurückbleiben, nicht bewusst, aber auch nicht unbedingt ohne Bewusstsein – heimgesucht, könnte man sagen -, wenn die Menschen plötzlich verschwänden und die Räume genauso blieben wie in dem Augenblick, als alle aufstanden und weggingen. Wenn er stürbe, oder wenn er sich in diesem Moment anzöge, wegginge und nie wieder zurückkäme, würde dieser Raum etwas von ihm behalten, eine Mischung aus Bildnis und Wesen.
    Nicht wahr? Eine Zeitlang jedenfalls?
    Kein Wunder, dass man in viktorianischer Zeit Kränze aus den Haaren der toten Liebsten flocht.
    Was würde ein Fremder denken, wenn er in diesen Raum käme, nachdem Peter weg war? Ein Makler würde denken, er hätte eine kluge Investition getätigt. Ein Künstler, die meisten Künstler, würde denken, er hätte lauter falsche Kunst. Die meisten anderen Menschen würden denken: Was ist das, ein verpacktes und verschnürtes Gemälde, warum machst du es nicht einfach auf?
    Schlaflose wissen besser als jeder andere, wie es wäre, ein Haus heimzusuchen.
    Halte mich, Dunkelheit.Was ist das? Ein alter Songtext oder ein Gefühl?
    Das Problem ist …
    Es gibt kein Problem. Wie könnte er, wie könnte irgendjemand aus den 0,00001 Prozent der wohlhabenden Bevölkerung es wagen, Probleme zu haben? Wer sagte zu Joseph McCarthy: »Schämen Sie sich nicht, Sir?« Man muss kein gehässiger rechtsgerichteter Fanatiker sein, um auf diese Frage zu kommen.
    Dennoch.
    Es ist dein Leben, höchstwahrscheinlich dein einziges. Dennoch ertappst du dich dabei, wie du um drei Uhr morgens einen Wodka trinkst, darauf wartest, dass deine Tablette wirkt, während die Zeit in dir verrinnt und dein eigener Geist bereits durch deine Räume streift.
    Das Problem ist …
    Er kann etwas spüren , das sich am Rand der Welt regt. Eine unstete Aufmerksamkeit, ein dunkler goldener Nimbus mit lebenden Lichtern, wie Fische im tiefen schwarzen Ozean, eine Kreuzung aus Galaxie, Sultansschatz und einer chaotischen, undurchschaubaren Gottheit. Obwohl er nicht religiös ist, bewundert er diese Ikonen aus der Zeit vor der Renaissance, diese vergoldeten Heiligen und mit Edelsteinen besetzten Reliquiare, ganz zu schweigen von Bellinis milchigen Madonnen und Michelangelos heißen Engeln. In einem anderen Zeitalter hätte er ein hingebungsvoller Diener der Kunst sein können, ein Mönch, dessen Lebenswerk darin bestanden hätte, eine einzige illuminierte Seite anzufertigen, sagen wir mal, die Flucht nach Ägypten, auf der zwei kleine Menschen und ein Kind unter einem lapislazuliblauen Firmament mit leuchtenden goldenen Sternen für alle Ewigkeit mitten im Schritt verharren. Er kann sie manchmal spüren – er kann sie heute Nacht spüren -, diese mittelalterliche Welt der Sünder und des gelegentlichen Heiligen, die unter einer gemalten himmlischen Unendlichkeit auf Reisen gehen. Er ist Kunsthistoriker, vielleicht hätte er … was? … Konservator werden sollen, einer dieser Leute, die in Museumskellern ihr Leben lang den Firnis und die Übermalungen abtupfen und sich (und irgendwann die Welt) daran erinnern, dass die Vergangenheit knallbunt und strahlend war – der Parthenon war vergoldet, Seurat verwendete grelle Farbtöne, aber seine billigen Farben sind zum typischen Dämmerlicht verblasst.
    Peter jedoch wollte nicht in Kellern leben. Er wollte ein Geschäftemacher sein (wie manche ihn bezeichnen), ein Bewohner der Gegenwart, obwohl er auch in der Gegenwart nicht recht leben kann; er kann sich nicht davon abhalten, um eine verlorene Welt zu trauern, könnte

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