In die Wildnis
mit der Angst zu tun«, erzählt Walt. »Wir wußten überhaupt nicht mehr, was mit dem Jungen los war. Schon der Anhalter - Strafzettel hatte uns ratlos gemacht. Er liebte seinen Datsun über alles, es war für mich einfach unfaßbar, daß er ihn stehengelassen hat und zu Fuß weitergereist ist. Obwohl, im nachhinein muß ich sagen, so erstaunlich war es gar nicht mal. Chris gehörte zu den Leuten, denen es widerstrebt, mehr zu besitzen, als sie sich bei einer Flucht auf Leben und Tod unter den Arm klemmen können.«
Während Kalitka sich bemühte, Chris' Fährte in Kalifornien aufzunehmen, war McCandless bereits weit weg und trampte Richtung Osten über die Cascade Range. Er durchquerte das Beifuß - Hochland und die Lavabetten des Columbia - River - Beckens und gelangte schließlich über das Nordende von Idaho nach Montana. Dort, kurz hinter Cut Bank, traf er auf Wayne Westerberg, und gegen Ende September arbeitete er für ihn in Carthage. Als Westerberg dann seine Gefängnisstrafe antreten mußte, keine Aussicht auf Arbeit bestand und sich bereits der Winter ankündigte, zog es Chris in wärmere Regionen.
Am 28. Oktober fuhr er mit einem Fernlaster nach Needles, Kalifornien. »Haben heute den Columbia River erreicht. Konnte mich vor Freude kaum halten«, schrieb McCandless in sein Tagebuch. Dann verließ er den Highway, folgte dem Flußlauf nach Süden und durchquerte die Wüste. Nach zwölf Meilen kam er in Topock, Arizona, an, einer staubigen Häuseransammlung an der Interstate 40, mehr Rastplatz als Dorf. Der Freeway überquert dort die kalifornische Grenze. Im Ort fiel ihm ein gebrauchtes Aluminium - Kanu auf, und er entschloß sich spontan dazu, es zu kaufen und damit den Colorado River bis zum Golf von Kalifornien hinunterzupaddeln - fast vierhundert Meilen nach Süden und über die Grenze nach Mexiko.
Das untere Flußstück zwischen Hoover - Staudamm und Golf von Kalifornien hat wenig gemein mit dem ungezähmten, reißenden Strom, der zweihundertfünfzig Meilen flußaufwärts von Topock durch den Grand Canyon schießt. Gebändigt von einer Vielzahl von Staudämmen und begradigenden Kanälen schleppt sich der Colorado träge von einem Staubecken zum anderen durch einen der heißesten, verdörrtesten Landstriche des gesamten Kontinents. McCandless war tiefberührt von der schmucklosen Strenge dieser Ödnis, von ihrer salzigen Schönheit. Die Wüste schärfte den süßen Schmerz seiner Sehnsucht, ließ ihn fühlbarer werden und gab ihm mit ihrer verbrannten Geologie und dem klaren, kantigen Licht sichtbare Gestalt.
Von Topock aus paddelte McCandless unter dem fahlen leeren Himmelszelt den Lake Havasu hinunter. Nach einem kurzen Abstecher in den Bill Williams River, einen Nebenfluß des Colorado, paddelte er stromabwärts durch das Colorado - River - Indianerreservat und gelangte über das Cibola - Wildschutzgebiet in das Imperial - Wildschutzgebiet. Er trieb an weiten Kakteen und Salzkrautebenen vorbei und kampierte unterhalb von Felsvorsprüngen nackter, präkambrischer Gesteinsschichten. In der Ferne trieben spitze, schokoladenbraune Berge auf gespenstischen Trugbildern von Wasserlachen. Als er eine Herde Wildpferde sichtete, verließ er den Fluß und folgte ihnen einen Tag lang. Dabei stieß er auf ein Warnschild der U.S. Army, das ihn darauf aufmerksam machte, daß er sich auf dem Yuma - Übungsgelände befand, einem Sperrgebiet. Unbefugten war der Zutritt strengstens verboten. McCandless wanderte unbeeindruckt weiter.
Ende November paddelte er durch Yuma, wo er eine Zeitlang Station machte. Er frischte seine Vorräte auf und schickte Westerberg eine Karte, c/o Glory House - dem Gefängnis in Sioux Falls, wo Westerberg im freien Vollzug seine Zeit absaß. »Hey Wayne!« heißt es auf der Karte:
Wie geht's, wie steht's ? Ich hoffe, daß es bei Dir wieder aufwärts geht, seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben. Ich bin nun einen Monat lang in Arizona herumgetrampt. Ein wirklich toller Staat! Die Landschaft ist phantastisch, und das Klima könnte nicht besser sein. Aber ich möchte Dich nicht nur grüßen, sondern mich vor allem wieder für Deine Gastfreundschaft bedanken. So gute, großzügige Menschen wie Dich trifft man nicht alle Tage. Manchmal wünsche ich mir jedoch, ich hätte Dich nie kennengelernt. Das Trampen fallt einem mit einem so prall gefüllten Portemonnaie viel zu leicht. Aufregender war's damals, als ich noch ohne einen Pfennig in der Tasche herumreiste und mir jeden Tag mein
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