In die Wildnis
Zentrum des Lagers war Quellwasser aus einer heißen Thermalquelle in zwei seichte, dampfende, von Steinen umrandete Becken geleitet worden. Dies war Oh - My - God Hot Springs.
McCandless lebte jedoch nicht direkt bei den Quellen: er kampierte etwas abseits, ungefähr eine halbe Meile weiter in der bajada. Franz fuhr Alex das restliche Stück dorthin. Sie plauderten noch eine Weile, und schließlich machte sich der alte Mann wieder auf den Weg zurück ins Dorf. Er lebte allein in einem heruntergekommenen Mietshaus, wo er zur freien Miete als Hausmeister füngierte.
Franz, ein gottesfürchtiger Christ, hatte den größten Teil seines Erwachsenenlebens in der Armee zugebracht und war in Shanghai und auf Okinawa stationiert gewesen. In der Silvesternacht von 1957, die er in Übersee verbrachte, kamen seine Frau und sein einziges Kind bei einem Autounfall ums Leben. Der Unfall war von einem Betrunkenen verursacht worden. Franz' Sohn wäre im Juni des folgenden Jahres mit seinem Medizinstudium fertig gewesen. Franz griff zur Whiskeyflasche und tauchte im Suff ab.
Sechs Monate später riß er sich zusammen, rührte von heute auf morgen keinen Tropfen mehr an, aber es half alles nichts; den Tod seiner beiden liebsten Menschen hat er niemals richtig überwunden. Um gegen die Vereinsamung und Isolation in den Jahren nach dem Unfall anzugehen, begann er am Gesetz vorbei bedürftige einheimische Kinder auf Okinawa zu »adoptieren«. Schließlich hatte er vierzehn Kinder und Jugendliche unter seinen Fittichen. Dem ältesten finanzierte er das Medizinstudium in Philadelphia und einem weiteren ein Medizinstudium in Japan.
Als Franz McCandless traf, wurden seine schlummernden Vaterinstinkte wiedererweckt. Der Junge ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte gesagt, er heiße Alex - seinen Nachnamen wollte er nicht nennen - und stamme aus West Virginia. Er war höflich, freundlich, gepflegt.
»Er machte einen hochintelligenten Eindruck«, erzählt Franz. Sein exotischer Akzent klingt wie eine Mischung aus Schottisch, Pennsylvania - Dutch und dem typischen, gedehnten Carolina - Drawl. »Ich hab mir gedacht, der Junge ist viel zu nett, um mit diesen Nackten, Säufern und Kiffern bei den Quellen dort zu leben.« Als er am Sonntag darauf aus der Messe kam, beschloß Franz, mit Alex »ein Wörtchen über seinen Lebenswandel« zu reden. »Irgend jemand mußte ihm klarmachen, daß er eine Ausbildung brauchte, einen Job, daß er was aus seinem Leben machen mußte.«
Als er aber McCandless' Lager erreichte und seinen Sermon über die Lebensgestaltung anstimmte, schnitt ihm McCandless kurzerhand das Wort ab. »Schauen Sie, Mr. Franz«, sagte er mit fester Stimme, »Sie brauchen sich um mich wirklich keine Sorgen zu machen. Ich habe ein abgeschlossenes Studium in der Tasche. Ich bin kein Sozialfall. Ich lebe aus freien Stücken so.« Anfangs reagierte er zwar bissig, aber allmählich erwärmte der Junge sich für den netten alten Herrn, und die beiden unterhielten sich und freundeten sich an. Sie fuhren in Franz' Pick - up nach Palm Springs, aßen in einem netten Restaurant zu Abend und fuhren mit der Trambahn auf den Gipfel des San Jacinto Peak. Am Fuße des Berges suchte McCandless noch eines seiner Verstecke auf und grub einen mexikanischen Umhang und ein paar andere Sachen aus, die er dort vor einem Jahr vergraben hatte.
Während der nächsten Wochen waren McCandless und Franz oft gemeinsam unterwegs. Chris trampte regelmäßig nach Salton City. Er wusch seine Wäsche in Franz' Wohnung, und sie grillten sich Steaks. Er gestand ihm, daß er eigentlich nur noch auf den Frühling warte, um endlich nach Alaska aufzubrechen, wo er das »ultimative Abenteuer« erleben wollte. Er drehte den Spieß um und hielt der großväterlichen Gestalt Vorträge über die Nachteile eines seßhaften Lebenswandels. Er redete auf den Achtzigjährigen ein, forderte ihn auf, Hab und Gut zu verkaufen, aus der Wohnung auszuziehen und sich in das Abenteuer der Straße zu stürzen. Franz ließ McCandless' leidenschaftliche Reden gelassen über sich ergehen und freute sich einfach an seiner Gesellschaft.
Franz war sehr geschickt in der Herstellung von Lederaccessoires und weihte Alex in die Geheimnisse seiner Kunst ein. McCandless' erstes Stück war ein mit Punzarbeiten verzierter Gürtel, dessen phantasievolle Bilderfolge Erlebnisse aus seinen Wanderungen aufgreift. Am Lochende des Gürtels ist ALEX ins Leder gestanzt. Gleich dahinter umrahmen die
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