In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
Klavier. Sie war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Meine Seelenverwandte. Die andere Hälfte meines Ichs.« Immer leiser hatte er gesprochen, bis er nur noch flüsterte. »Und dann«, seine Brauen zogen sich zusammen, »und dann war sie plötzlich einfach nicht mehr da. Von einer Sekunde zur nächsten.« Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht, lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und schaute zur Balkontür hinaus. »Schon die ganze Nacht über hatte es geregnet, aber wir wollten uns davon das Wochenende in Muir Woods nicht verderben lassen und sind trotzdem in strömendem Regen losgezogen. Evan, Chase und Maddie vorneweg, Lauren und ich hinterher. Meine Idee, weil der Boden so rutschig war. Wenn du fällst, fang ich dich auf, hab ich zu ihr gesagt, ich kann das, ich bin darin geübt. Sie hat gelacht und mir einen Kuss gegeben, bevor sie sich an mir vorbeigedrückt hat und in großen Schritten weitergelaufen ist. Ich sehe sie immer noch vor mir, in ihrer blauen Wanderjacke, die Kapuze über den Kopf gezogen und in ihren Wanderstiefeln, die an ihren dünnen Beinen viel zu klobig aussahen.«
Ich wandte mich halb ab, zog auch das zweite Knie zu mir herauf und umschlang beide fest; ich konnte ihn nicht dabei anschauen, es war schlimm genug, ihm zuzuhören.
»Der Weg musste unterspült gewesen sein. Sie schrie nicht mal, als der Boden unter ihr nachgab und sie die Böschung hinabstürzte.« Er machte eine kleine Pause. »Aber das Geräusch, als sie mit dem Kopf gegen einen Baumstamm prallte, das höre ich immer noch.«
Schaudernd schloss ich die Augen.
»Warst du mal in Muir Woods?«, hörte ich ihn nach einer Weile leise fragen. Ich blinzelte zu ihm herüber und schüttelte den Kopf. »Ist schön da. Lauren war gern dort. Sie mochte die Mammutbäume.« Einer seiner Mundwinkel bog sich aufwärts. »Sie gehörte zu den Menschen, die dauernd Bäume umarmen müssen.« Er umfasste seinen Kaffeebecher und rieb mit dem Daumen über den Rand. »Danach war ich noch oft dort. Ich wollte verstehen, wie es passiert ist. Warum die anderen drei heil über diese Stelle kamen und Lauren nicht. Und ich glaubte, ich könnte ihr dort am nächsten sein, wo sie gestorben ist.« In einer schwachen Bewegung hob er die Schultern. »Aber da war nichts von Lauren zu spüren. Nichts außer meinen Erinnerungen an jenen Tag. – Kennst du Hitchcocks Vertigo ?«
Dunkel erinnerte ich mich an einen uralten Film in grellem Technicolor, an eine wilde und schwindelerregende Verfolgungsjagd über Hausdächer, an das lange, vergrämte Gesicht von James Stewart und an eine sehr blonde Schauspielerin. »Nicht so wirklich.«
»Spielt hier, in SanFran, und ist auch in der Stadt und in der Umgebung gedreht. Darin geht es um Tod, Trauma und Wiedergeburt. Ich mochte immer dieses Spiel von Schein und Sein.« In seinem Gesicht zuckte es, und leiser fügte er hinzu: »Heute sehe ich diesen Film mit ganz anderen Augen. Jedenfalls …« Mit einem Räuspern rutschte er auf dem Stuhl herum. »Jedenfalls gibt es darin auch eine Szene in Muir Woods. An dieser Scheibe eines alten Mammutbaums, auf dessen Jahresringen bedeutende Daten wie die Ankunft von Kolumbus, die Unabhängigkeitserklärung und der Goldrausch in Kalifornien eingetragen sind. Und Kim Novak zeigt im Film Jimmy Stewart, wo auf den Jahresringen sie geboren und wo sie gestorben ist, in ihrem früheren Leben.« Ein wackeliges Lächeln umspielte seinen Mund. »Schon unheimlich, dass Lauren und ich früher manchmal diese Szene nachgespielt haben. Sie war echt gut als Kim Novak.« Er atmete tief durch, löste seine Hand vom Kaffeebecher und begann stattdessen seine Worte zu unterstreichen, indem er mit der Handkante Markierungen auf der Tischplatte andeutete. »Genauso geht es mir. Mein Leben ist in zwei Hälften zerfallen. In ein Leben, bevor Lauren starb, ein richtiges Leben, und in den kümmerlichen Rest danach. Wie bei einem Jahresring markiert dieser eine Tag in Muir Woods die Grenze dazwischen. Seither fühle ich mich auch nur noch halb. Als … als ob ein Teil von mir mit ihr gestorben wäre an jenem Tag. – Oh Mann, entschuldige. Ich wollte nicht meinen ganzen Seelenmüll bei dir abladen!« Er stützte den Ellenbogen auf und legte seinen kurz geschorenen Schädel in die Handfläche, rubbelte sich kräftig darüber, bevor er mit einem Aufschnaufen wieder den Kopf hob und mich zerknirscht ansah. »Tut mir echt leid.«
Ich schüttelte den Kopf und griff zu meinem Kaffeebecher.
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