In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
kleines Mädchen in einem weißen Rüschenkleid, dunklen Strümpfen und Schnürstiefeln, große Schleifen in den Zöpfen, hüpfte direkt auf mich zu; ich wollte ihm ausweichen, war aber eine Spur zu langsam, und erschauerte, als es mit der Schulter und einem tanzenden Zopf durch mich hindurchstrich.
»Amber?« Aus weiter Ferne hörte ich eine Stimme. »Bist du so gut und richtest deine Aufmerksamkeit wieder auf die Russische Revolution? Hast du mich nicht gehört, Amber? Ein gewisses Maß an Respekt gegenüber meinem Unterricht finde ich nun wirklich nicht zu viel verl…«
Ich blinzelte in die Sonne, die hinter der gegenüberliegenden Küste unterging, und staunte über die Lichter, die sich nach und nach in den Häusern und entlang der Straßen der Stadt entzündeten. Lichter, von denen immer mehr aufglommen, je schwärzer sich die Nacht herabsenkte, bis das Panorama der Stadt wie eine Spiegelung der Milchstraße in einem dunklen See aussah. Bevor eines nach dem anderen verlosch und nur ein schwacher Schein übrig blieb in der tiefen, tiefen Nacht.
»Amber? Ist alles in Ordnung mit dir?« Hinter mir hörte ich Kichern und Tuscheln.
Ein leises Grollen rollte in der Finsternis heran wie das eines Donners, nur tiefer und über den Boden heranpolternd statt durch die Luft. Die Erde zu meinen Füßen erzitterte und schwankte, begann dann heftig zu vibrieren, schließlich zu schütteln; ich ließ mich auf die Knie fallen und warf schützend die Arme über meinen Kopf. Um mich herum, durch mich hindurch rannten Menschen in heller Panik durch die Straßen, schrien und brüllten und weinten, Kinder plärrten und kreischten hoch und schrill.
»Was ist denn mit dir, Amber? Seid mal bitte ruhig da hinten! Fünf Minuten Pause für den gesamten Kurs. Um halb seid ihr alle wieder hier, keine Minute früher und keine später. Und jetzt raus mit euch!« Scharrend wurden Stühle zurückgeschoben; Gummisohlen quietschten, Absätze klackerten über den Boden, und aufgeregtes Flüstern entfernte sich von mir. Dann klappte eine Tür. »Amber? Kannst du mich hören? Amber?«
Verbrannt roch es, ein beizender, ätzender Geruch nach Feuer und Rauch, der mir die Luft zum Atmen nahm, mir die Kehle verätzte und mich würgen ließ. Vorsichtig hob ich den Kopf, in ein schmutziggraues Dämmerlicht hinein, und stand dann langsam auf. Fassungslos blickte ich über die Stadt, die in eine dicke schwärzliche Wolke aus Qualm und Ruß eingehüllt war. Ein dichter Schleier aus Rauch verhüllte den Himmel und verdunkelte die Sonne. Wohin ich auch schaute, sah ich Skelette aus Mauerresten, verbogenen Stahlträgern und verkohltem Holz; nur wenige Häuser standen noch, und in der Ferne nahm ich den Schein lodernder Feuer wahr. San Francisco lag in Trümmern, in Schutt und Asche und brannte immer noch.
»Was ist denn mit dir, hm? Geht’s dir nicht gut?« Eine weiche Hand legte sich auf meine Schulter; ich zuckte zusammen und wandte blinzelnd den Kopf. In einem langen Jeansrock und einer gelbgrünen Tunika mit perlenbesticktem Saum hockte Mrs Jankovich auf der Tischkante und sah mich mitfühlend an. Daneben, die Hände tief in die Taschen seiner schwarzen Kapuzenjacke geschoben und das zu wilden Stacheln gegelte Haar leuchtend blau, stand Matt; unter zusammengezogenen Brauen formte sein Mund ein stummes Was ist los? .
Ich deutete ein Kopfschütteln an und wich seinem bohrenden Blick aus.
Matt räusperte sich. »Der Todestag von Ambers Mutter jährt sich in ein paar Wochen zum ersten Mal. – Stimmt doch, oder, Amber?« Man musste Matt schon ziemlich gut kennen, um die Schärfe in seinen letzten Worten herauszuhören. Ich nickte mechanisch.
»Das belastet dich sicher sehr«, sagte Mrs Jankovich leise und umfasste meine Schulter fester. »Möchtest du nach Hause gehen?« Ich nickte wieder, genauso mechanisch wie gerade eben. »Matt, würdest du so nett sein und …«
»Klar, Mrs Jankovich.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Matt sich meinen Rucksack schnappte und mein Schreibzeug und das Geschichtsbuch hineinstopfte. »Ich bring dich nach Hause – ja?!«
Es klang nicht fragend oder wie ein Vorschlag, sondern eher wie ein Befehl. Gehorsam stand ich auf und stakste hinter Matt zur Tür hinaus, an den anderen Schülern des Geschichtskurses vorbei, die vor dem Unterrichtsraum herumlungerten und mich neugierig anstarrten. Allen voran Sharon und Danielle, die eifrig miteinander tuschelten.
»Was ist denn eigentlich mit dir los?!«, fauchte Matt mich
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