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In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

Titel: In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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in dem leeren und stillen Korridor vor meinem Schließfach an und warf mir den Rucksack entgegen, den ich gerade noch so auffangen konnte. »Du bist schon die ganzen letzten Tage so krass drauf!«
    »Nichts ist los«, flüsterte ich; ich konnte ihm dabei nicht in die Augen sehen, sondern bückte mich, um den Rucksack abzustellen, und drillte dann mühselig das Zahlenschloss an meinem Spind auf.
    »Red keinen Schwachsinn! Ich merk doch, dass mit dir was nicht stimmt!« Er klang stinksauer, aber auch ziemlich besorgt.
    Schweigend und mit schleppenden Bewegungen packte ich meine Sachen in den Rucksack. Ich war müde, so unendlich müde; schwach fühlte ich mich und ausgelaugt. Als ob mein Körper einfach schlappmachte, mit jedem Tag ein bisschen mehr.
    »Du kommst auf der Stelle mit mir mit! Und zwar zu Holly – und wenn ich dich an den Haaren dorthinschleifen muss!«
    Aus dem Augenwinkel sah ich, wie seine Hand vorschnellte, um mich beim Arm zu packen, und hastig riss ich meine Schulter zurück. Seine Brauen zogen sich zusammen, seine Augen verdunkelten sich, und ich merkte, dass er nicht nur wütend auf mich war, sondern auch gekränkt. Und bei dem Gedanken, ich könnte jetzt womöglich auch noch unsere Freundschaft kaputt machen, fühlte ich mich gleich noch elender.
    Auf meinem Platz in Hollys Küche starrte ich unter halb bockigem, halb erschöpftem Schweigen in die geblümte Uroma-Tasse, in der der Kräutertee langsam kalt wurde. Ich spürte, wie Matt mich von gegenüber genauso eindringlich musterte wie Holly, die mit Tee und Zigarette auf dem Fensterbrett hockte. Ich starrte so angestrengt auf die Tasse vor mir, dass meine Augen brannten, und mir wurde schwummrig.
    Unter meinen Sneakers knirschten Sandkörner, trockene Erdklumpen und Steinchen, während ich die schnurgerade Straße entlangging. Zersplitterte Holzbalken lagen herum, ein Haufen abgesägter Äste und dazwischen Müll, den ich mir nicht genau betrachten mochte. Zu beiden Seiten drängten sich zweistöckige Häuser aus Stein aneinander und Holzhäuser unter Giebeldächern, manchmal mit abenteuerlich verwinkelten oder gekrümmten Treppen an ihren Fassaden. Gaslaternen säumten die Bürgersteige aus grob zusammengezimmerten Holzlatten; kleine Kutschen waren vor den Häusern geparkt, manchmal mit einem oder zwei Pferden davor, oft jedoch abgeschirrt und die Deichsel auf der unbefestigten Straße ruhend. Eine Handvoll Kinder tobte johlend und kreischend über die Straße hinweg, kleine Mädchen in hellen, staubverschmierten Kleidchen und Jungs in Stoffhosen und gestreiften Hemdchen, Schiebermützen auf den Köpfen.
    »Siehst du das? Siehst du’s?!« Wie durch Watte hörte ich Matts aufgeregte Stimme. »Genau das meinte ich vorhin! Genau das passiert jetzt immer öfter – dass sie diesen glasigen Blick bekommt und irgendwie gar nicht mehr richtig da ist! Abby und Shane ist es auch schon aufgefallen!«
    Ich blieb stehen. Der steile Hügel auf der linken Seite war kahlbraun bis auf lang gezogene Mäuerchen, die sich darüberschlängelten, und einzelnen Häuschen, die sich darauf verstreuten. Die Straße vor mir schien an ihrem Ende nahtlos ins Wasser überzugehen, aus dem sich eine nackte braune Insel erhob, und Dunstschleier trieben vom Ufer her auf mich zu, ein kühler, feuchter Hauch, der für mich etwas Verlockendes hatte.
    »Herzchen, was ist denn los mit dir?«
    Ich blinzelte verwirrt Holly an, die in zerrissenen Jeans und superengem, tief ausgeschnittenem Longsleeve mit Tarnmuster in Pink und Grün neben mir kniete und mich mit ihren warmen braunen Augen besorgt ansah. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihr oder Matt erklären sollte, was gerade mit mir passierte. Immer häufiger driftete ich in eine fremde Welt ab, in der mir alles greifbar real schien, in der ich aber nicht wirklich existierte. Nicht wie in einem lebhaften Tagtraum, sondern viel intensiver. Wie in einer Parallelwelt. Als ob ich immer wieder aus Zeit und Raum herausfiel, wanderte ich ziellos und unsichtbar durch das San Francisco der Vergangenheit. Ganz genau wie eine verlorene Seele.
    »Sag doch bitte was, Cutie Pie! Du bist ja ganz blass und hast Ringe unter den Augen! Hast du Kummer? Ist irgendwas zwischen dir und Nathaniel …« Hollys Augen wurden groß. »Sag mir jetzt nicht, dass du es tatsächlich getan hast!«
    »Was getan?«, warf Matt genauso knurrig wie neugierig dazwischen.
    Ich biss mir auf die Lippen und starrte wieder auf die Tasse vor mir.
    »Bitte, Amber, Süße,

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