In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
hierbehalten, mehr von ihr sehen, mehr von ihr wissen. Am liebsten hätte ich sie bei den Schultern gepackt und mit Gewalt zurückgehalten. Stattdessen umklammerte ich die Streben der Balustrade vor mir und presste mein Gesicht dagegen.
Bitte bleib, flüsterte ich stumm gegen das Holz. Bleib hier. Bitte.
Ihre Schritte verlangsamten sich und sie wandte sich um. Ein Schaudern lief durch sie hindurch, und eilig ging sie weiter, ein bisschen unsicher in der Dunkelheit und doch zielstrebig. Ich spürte, wie sie sich von mir entfernte und etwas mit sich fortnahm, das ich nicht benennen konnte. Etwas, das ich vorher auch gar nicht gekannt hatte, aber nach dem ich jetzt umso mehr hungerte.
»Komm zurück«, murmelte ich in das Haus hinein, das danach noch stiller dalag als zuvor. Noch leerer.
Morgen. Übermorgen. Irgendwann. Nur komm bitte wieder hierher.
14
Das schmiedeeiserne Tor gab ein klägliches Kreischen von sich, als ich es hinter mir zuzerrte. Vorsichtig schaute ich mich um, aber weit und breit war niemand zu sehen. Dick stand der Nebel auf der Straße, und ich lief hinüber, auf eine Kirche zu, die mit ihrer Backsteinfassade und ihren Rundbögen etwas Altitalienisches hatte. Christian Science, erklärte mir das hochkant an einem Pfosten angebrachte Schild, und mein Herz zuckte kurz auf, als ich das Straßenschild daneben entzifferte: California.
Ich machte kehrt und hastete an der Kirche vorbei, den gesamten Häuserblock entlang, und bog an der nächsten Ecke in die Sacramento Street ab. Mit Blicken suchte ich die beleuchteten Hauseingänge ab. 1982. 1980. 1978. Die Hausnummern wurden kleiner und ich atmete auf; ich war auf dem richtigen Weg. Innerlich zählte ich die Querstraßen mit, die meinen Weg kreuzten, und prägte mir ihre Namen ein. Eins. Van Ness. Zwei. Polk. Drei. Larkin.
Mir rutschte ein trockenes Schluchzen heraus, als ich an der nächsten Kreuzung im Schein der Straßenlaterne den schnörkeligen Schriftzug Lilypad über den dunklen Schaufensterscheiben lesen konnte und gleich darauf das Schild, auf dem »Hyde« stand. Ich stolperte über die Straße und schleppte mich das letzte Stück bergauf. Auf das Geländer gestützt, zog ich mich die beleuchtete Treppe hoch und wühlte meine Schlüssel aus der Hosentasche. Meine Hände zitterten, und ich brauchte etliche Augenblicke, bis ich die Tür aufbekam. Ich atmete auf, als sie hinter mir ins Schloss fiel; dann blieb ich wie angewurzelt stehen.
Ich starrte mich selbst im Spiegel an. Von meiner Jacke hing ein großer Fetzen lose herunter und die Jeans war komplett verdreckt. Meine zerrauften Haare fielen mir wild ins Gesicht, das verschwitzt war und leichenblass und von roten Flecken überzogen. Und wo ich gegen den Zaun geknallt war, war mein Gesicht angeschwollen und hatte sich blau zu verfärben begonnen. Jetzt erst setzte der Schock ein. Das Begreifen, was mir alles hätte passieren können. Wie unglaublich dumm und leichtsinnig ich gewesen war. Und ich fing zu zittern an.
Als sich die Tür neben dem Spiegel mit einem feinen Klicken öffnete und die schmalzige Musik einer TV -Serie ertönte, fuhr ich zusammen.
»Amber? Wo kommst du denn noch so spät allein … Oh!«
Bestürzt sah mir Mrs Hanson entgegen, den Kopf voller Lockenwickler, über die sie ein giftgrün gemustertes Chiffontuch gebunden hatte; unter ihrem rosafarbenen Morgenmantel lugte der Rüschensaum eines zitronengelben Nachthemds hervor. Neben ihren ebenfalls rosafarbenen Plüschpuschen tauchte ihre Katze auf, glotzte mich aus aufgerissenen Augen an und flitzte dann mit einem entsetzten Miauen wieder in die Wohnung hinein.
»Du siehst ja schrecklich aus!«, rief Mrs Hanson, öffnete die Tür weiter und kam einen Schritt auf mich zu. »Was ist denn passiert? Hattest du einen Unfall? Oder – oder hat dir jemand was getan?«
Wie ein Fisch auf dem Trockenen klappte ich den Mund auf und wieder zu, brachte aber keinen Ton heraus.
»Komm her, Herzchen«, gurrte Mrs Hanson mitfühlend und streckte die Arme nach mir aus. »Komm erst mal rein! Jetzt rufen wir deinen Daddy auf seinem Handy an und verständigen die Polizei. Und solange kümmer ich mich um dich.«
Willenlos ließ ich mich von ihr in die Wohnung bugsieren; wie bei einem kleinen Kind nahm sie mir den Rucksack ab, pellte mich aus der Jacke und verfrachtete mich auf ihr groß geblümtes Sofa, wo sie mir die Sneakers auszog und mich in eine Decke aus Synthetikflausch packte, als ob es draußen Minusgrade hätte, bevor sie
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