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In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

Titel: In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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meinte, aber es spielte auch keine Rolle; ich schüttelte einfach immer nur weiter den Kopf.
    Er ließ sich im Stuhl hinabrutschen und vergrub die Hände in den Taschen seiner Baggypants.
    »Dann werd ich mir wohl was einfallen lassen müssen, um dich davon zu überzeugen.«
    Ich stand vor dem italienisch wirkenden Backsteinbau der Christian Science und starrte zu dem alten Haus hinüber. Obwohl mir Matt eingeschärft hatte, mich davon fernzuhalten.
    Aber irgendwie hatten meine Füße von selbst den Weg hierher eingeschlagen, nachdem ich aus dem Bus ausgestiegen war. Als ob es der beste Ort dafür war, mir alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen.
    Die Kirche im Rücken zu haben, hätte mir ein Gefühl der Sicherheit geben sollen, aber das tat es nicht. Holly und Matt waren der Meinung, Geister ließen sich nicht durch Kruzifixe, Heiligenbildchen oder Weihwasser abwehren oder gar bannen. Alles unsinnige Mythen von anno dazumal, die bis heute kursierten. Urban Legends .
    Ich schob die Hände in meine Jeanstaschen und zog die Schultern hoch. Hatte ich wirklich meine Nachmittage mit einem Geist verbracht, ohne es zu merken? Mir rieselte es kalt den Rücken hinunter. Und gleich darauf rann wieder dieses heiße, sehnsüchtige Ziehen durch meinen Bauch, als ich an Nathaniel dachte. Falls er tatsächlich ein Geist war – wie war er dazu geworden? Was hatte er zu Lebzeiten Schlimmes getan? Und wie lange war er nun schon in dieser Existenz gefangen?
    Mein Magen ballte sich zusammen; zum ersten Mal seit langer Zeit drückten Tränen gegen meine Augäpfel und ich biss mir heftig auf die Lippen. Ich wollte, ich musste ihn sehen; ich musste, wollte ihn so vieles fragen. Musste. Wollte. MUSSTE .
    Wenn es ihn überhaupt gab.
    Mein Fuß bewegte sich unschlüssig vorwärts und gleich wieder rückwärts über die Bordsteinkante. Ich wusste nicht, was schlimmer war: mit absoluter Sicherheit festzustellen, dass er ein Geist war. Oder das Haus leer vorzufinden und einsehen zu müssen, dass ich ihn mir die ganze Zeit über nur eingebildet hatte.
    Mein Kopf fuhr hoch, als sich drüben an der Hausfassade etwas bewegte. An einem der Fenster ganz oben im Turm konnte ich den Umriss einer Gestalt erkennen; ein erstickter Laut rutschte mir heraus, und ich rannte los, als ob der Teufel hinter mir her wäre.
    Ich hatte eine Scheißangst.
    Mams Strickjacke an mich gepresst, die kaum noch nach ihr roch, starrte ich abwechselnd in das gedämpfte Licht, das meine Nachttischlampe im Zimmer verbreitete, und auf das gerahmte Foto von Mam und mir. Ich sehnte mich nach meinem alten Leben in Deutschland zurück, das so geordnet, so sicher und so selbstverständlich gewesen war. Und das es einfach nicht mehr gab. Das es nie mehr geben würde. In einer Zwischenwelt fühlte ich mich gefangen, in einem chaotischen, unberechenbaren und immer noch fremden Raum, der sich der Zeit entzog und in dem ich hilflos umhertaumelte. Mit einem winzigen Keim an Hoffnung, dass ich eines Tages wieder ein richtiges Leben haben würde, aber ohne Gewissheit darauf und mit viel, viel Angst.
    Falls es tatsächlich Geister gab, dann ahnte ich, wie sie sich fühlten.
    Meine Lider flatterten und wurden schwer; immer wieder riss ich sie gewaltsam auf. Ich wollte nicht schlafen. Ich wollte nicht wieder in Angstträumen versacken, aus denen Ted mich aufwecken musste. Ich hatte Angst vor all dem, was der Schlaf mit sich brachte. Vor dem Ertrinken in der Flut und davor, Nathaniel im Traum zu begegnen. Nathaniel …
    Nathaniel …

38
    So finster und still wie früher war die Nacht schon lange nicht mehr. Aber es gab sie noch, die Stunde, in der die Nacht schwärzer und stiller war als sonst.
    So wie jetzt, während ich am Fenster stand. Ringsum schliefen die Menschen tief und fest und ihre Seelen öffneten sich. Für Träume. Für Eingebungen, die erst nach dem Aufwachen irgendwann an die Oberfläche kommen. Für Geister.
    Lange rang ich in dieser Nacht mit mir. Aber das Sehnen nach ihr war stärker.
    Als ob ein Dutzend Musiker uneins waren, was sie auf der Saite in mir spielen sollten, so war es plötzlich gewesen. Der eine riss heftig daran, dass es laut und grell in mir widerhallte, der andere zupfte sanft eine schmeichlerische Melodie. Ein wilder Tumult war es, gleichzeitig schrecklich und schön, den ich mir nicht erklären konnte. Bis ich zum Fenster trat und Amber unten stehen sah in ihrer grauen Jacke, eine helle Bluse darunter. Der Wind fuhr durch ihr Haar. Ihre Stirn war

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