In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
anfangen sollte, worauf wir über Sinn und Unsinn von fest gesteckten Berufszielen diskutierten, bis wir in der Schlange so weit vorgerückt waren, dass wir auf das kleine weiße Schiff steigen konnten, das am Kai auf uns wartete.
Es war seltsam: Obwohl ich nachts so oft Albträume von Wasser hatte, hatte ich hier an Bord überhaupt keine Angst. Ich genoss das Schaukeln des Schiffs mit seinem wummernden Dieselmotor und den Blick in die aufgewühlten und schäumenden grünblauen Wellen, die am Rumpf immer wieder hoch aufspritzten. Nur meine Haare wurschtelte ich schnell zu einem Pferdeschwanz zusammen, weil sie der kräftige Wind dauernd durcheinanderwirbelte und mir ins Gesicht peitschte. Verwundert sah ich zu, wie Matt sein Totenkopftuch fester um den Hals schoppte und die Kapuze seiner Sweatjacke aufstellte, bevor er den Reißverschluss bis zum Kinn hochzippte. Denn obwohl der Wind heftig blies und ein leichter Nebel vom Wasser hereinzog, fand ich es nicht besonders kalt in meiner dünnen Jacke und den Trekkinghosen, in deren Taschen ich Geldbeutel, Handy und Tempos verstaut hatte, um nicht meinen Rucksack mitschleppen zu müssen.
»Mein Immunsystem ist seit damals angekratzt«, erklärte er, als er meinen Blick auffing. »Ich muss da ein bisschen aufpassen. Sagt jedenfalls meine Mom. Und weil ich ein braver Junge bin«, seine dunklen Augen funkelten spöttisch auf, »mach ich das auch ab und zu.«
»Wie sind deine Eltern denn so?« Um mich herum drängten sich die anderen Passagiere mal auf diese Seite der Reling, mal auf die andere, um Fotos aus möglichst allen Perspektiven von Alcatraz, den Küsten von Oakland und Marin County, der Bay Bridge und der Skyline von San Francisco zu knipsen.
»Na ja, wie sollen sie schon sein? Eltern eben.« Matt drehte sich um, breitete die Arme aus und rief der sich entfernenden Silhouette entgegen: »Ist diese Stadt nicht herrlich?!«
Verblüffte bis erheiterte Blicke der anderen Fahrgäste an Deck trafen ihn und ich gluckste in mich hinein. Irgendwie war es schon cool, inmitten all dieser Menschen aus der ganzen Welt zu stehen und zu wissen, dass man selbst tatsächlich dort drüben in dieser Stadt mit ihrem Panorama aus Puppenhäuschen und Wolkenkratzern wohnte.
»Warst du schon mal auf Alcatraz?«, wollte ich von Matt wissen.
Er fuhr herum und sah mich gekränkt an. »Hallo, seh ich etwa wie ein Tourist aus?! Ich bin ein echter San Franciscan! Von uns fährt da normalerweise keiner hin!« Was erklärte, warum Ted mir nie einen Ausflug dorthin vorgeschlagen hatte.
Ich drehte mich um und blickte der Insel entgegen, die schnell näher kam. Zwischen hohen Bäumen konnte ich ein großes, mehrstöckiges Gebäude in Elfenbeinweiß erkennen und daneben eine Anzahl weiterer Bauten, die halb verfallen aussahen. Reichlich lädiert wirkten auch der hohe Schornstein und ein Wachturm aus verwittertem Metall. Oben auf dem Hügel erstreckte sich ein gealterter Klotz, der mit seinen gleichmäßigen Fensterreihen etwas Lauerndes hatte und ziemlich unheimlich aussah, genau wie der überdachte und rostfleckige Tank zwischen zwei Baumwipfeln.
»Dass es hier spukt«, hörte ich Matts Stimme direkt neben meinem Ohr und zuckte zusammen, »wussten schon die alten Indianer. Wer sich an einem besonders schweren Verstoß an den Stammesgesetzen schuldig gemacht hatte, wurde auf der Insel ausgesetzt. Und keiner davon kam je wieder zurück.« Mir lief es kalt den Rücken hinab. Matt stützte sich auf der Reling neben mir auf. »Früher war hier ein Militärgefängnis und in den Dreißigerjahren wurde es dann zum Hochsicherheitsknast für Schwerkriminelle. Al Capone war hier und der legendäre Birdman – mal den Film gesehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Wenigstens The Rock mit Sean Connery und Nicholas Cage?«, fragte er hoffnungsvoll. Als ich wieder den Kopf schüttelte, seufzte Matt. »Aber wahrscheinlich alle Folgen von Sex And The City , oder wie?«
»Ich bin mehr für Grey’s Anatomy und Private Practice .« Früher hatten Mam und ich unseren Serienabend gehabt oder manchmal mehrere Folgen einer alten Staffel auf DVD hintereinander weg angeguckt und dazu eine Schachtel Pralinen gefuttert; wenn ihr Freund da gerade auf Geschäftsreise gewesen war, hatte Gabi sich mit zu uns aufs Sofa gekuschelt, und Mam hatte mich immer fest an sich gedrückt und mir lachend einen Schmatzer auf die Wange gegeben, wenn ich sagte, sie sehe genau aus wie Kate Walsh als Addison Montgomery. Ich hatte beide
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