In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
Serien schon ewig nicht mehr geguckt; zu viel erinnerte mich an das vergangene Jahr, an Mam, an das Krankenhaus, in dem sie gelegen war und an die Ärzte und Schwestern dort.
Matt stellte unter Geröchel pantomimisch dar, wie er sich den Finger in den Hals steckte, und ich verdrehte die Augen, aber um meinen Mund zuckte es.
»Alcatraz ist der ideale Ort für ein solches Gefängnis«, nahm er den Faden wieder auf. »Ein eisenharter Fels mitten im bitterkalten Wasser voll tückischer Strömungen und Strudel, immer vom Wind umtost. Und außerdem gibt’s da draußen«, seine Hand glitt über die Wellen vor uns, »auch noch Haie. Keiner, der es je geschafft hat, aus einem Zellenblock ans Wasser zu entkommen, ist lebend wieder aufgetaucht. Von einem hat man viel später nur die Kleider gefunden.«
Unwillkürlich trat ich einen Schritt von der Reling zurück; ich fühlte mich wie in diesen Momenten im Schlaf, in denen ich kurz davor war, in einen Albtraum zu fallen.
»Hör auf mit dem Scheiß«, murmelte ich. »Das ist nicht witzig.«
»Find ich schon«, gab er heiter zurück, und ich knuffte ihn in die Seite, worauf er lachte. Jungs, echt!
In meinem Bauch flatterte es unruhig, und ich wusste selbst nicht, ob vor Angst oder einfach vor Aufregung. Verstohlen schaute ich in die Gesichter der anderen Passagiere an Deck, die allesamt vergnügt und fröhlich wirkten. Warum auch nicht, denn für sie war es nur eine ganz normale Sightseeingtour. Schließlich konnten sie auch keine Geister sehen. So wie ich.
Vielleicht.
Warum um Himmels willen hatte ich mich nur darauf eingelassen?
41
Wir waren an der Anlegestelle gerade von Bord gegangen, als Matt sich die Kapuze vom Kopf schob und seine feuerroten Haare mit gespreizten Fingern gekonnt wieder aufstellte, bevor er sich meine Hand schnappte und mich mit sich zog. An Touristen vorbei, die ihre Kameras zückten, sich in die Faltpläne vertieften, die es in einem Schaukasten gab, oder einfach herumschlenderten und sich dabei in aller Ruhe umsahen. Ein Ranger in khakifarbener Uniform und passendem Hut mit breiter Krempe scharte seine Gruppe für eine Führung um sich und erteilte mit lauter Stimme gerade die erste Lektion zur Geschichte der Insel. »Die Spanier nannten die Insel la Isla de los Alcatraces , nach den Pelikanen, die hier früher nisteten. Der Leuchtturm, der anfangs hier stand, wurde nach und nach zu einem Fort erweitert. Während des Sezessionskriegs wurde 1861 dann ein Militärgefängnis eingerichtet und …«
Sobald wir aus dem gröbsten Trubel draußen waren, ließ Matt mich wieder los und holte aus der Tasche seiner Baggyjeans das Smartphone, drückte ein paarmal darauf herum und betrachtete das Display. »Da lang«, verkündete er dann entschieden, und ich trottete hinter ihm her.
In seiner kahlen Bauweise und mit dem Warnschild aus der Zeit als Hochsicherheitsgefängnis wirkte das große Gebäude, das sich auf der linken Seite über mir auftürmte, auf mich bedrohlich. Daran konnten auch der belebte Buchladen und die Souvenirshops im Erdgeschoss nichts ändern. Genauso wenig wie die verschachtelt aneinandergebauten Häuser unmittelbar vor uns, unter denen uns ein finsterer, muffiger Tunnel hindurchführte. Das Gebäude auf der anderen Seite war nur noch ein Skelett aus nackten Betonwänden und Eisenträgern, das Haus dahinter von Wind und Wetter und den Jahren angenagt und vergilbt.
Wir marschierten einen betonierten Pfad hinauf, der sich in Serpentinen den Hang hochschlängelte. Es hatte etwas Unwirkliches, auf die Terrasse unter uns zu blicken, auf der neben einem alten Gewächshaus ein akkurat geharkter Kiesweg die gepflegten Blumenbeete umschloss, und darunter das Hausskelett vor den leuchtend türkisblauen Wellen zu sehen. Hier oben pfiff der Wind ganz schön heftig und zerrte ebenso an mir wie an den Sträuchern und Bäumen und von der Küste her drängte sich eine Nebelwand über das Wasser. Am Ende des Pfads baute sich hinter hohem Maschendrahtzaun die kalkige Fassade des Zellenblocks mit seinen vergitterten Fenstern auf und wir gingen hinein.
Dunkel und kühl war es in dem ersten Raum, einem ehemaligen Waschraum mit nackten Leitungsrohren und Duschköpfen. Dahinter wurde es zu meiner Erleichterung heller; hinter den Trennwänden aus starkem weißem und rostgeflecktem Drahtgeflecht warf ich einen Blick in die Wäscherei mit ihren weißen Holztischen, Wäschewagen und Holzregalen mit säuberlich gefalteter und aufgestapelter Anstaltskleidung.
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