In einem Boot (German Edition)
Rufe. »Gott ist gnädig!«, schrie jemand, und Mrs McCain, die mich in ihrem Bestreben, zur Reling zu kommen, beinahe umgeworfen hätte, rief: »Endlich! Zivilisation!« Aber was ich vor Augen hatte, waren nicht die sozialen Geflechte und die kulturellen Errungenschaften der Menschheit. Ich sah etwas Wesentlicheres, Unergründliches, nicht einen Gegensatz zum Meer, so wie feste und gasförmige Stoffe Gegensätze bilden oder das Leben das Gegenteil des Todes ist, sondern eine Art Erweiterung davon. Vielleicht hatte ich eine Vorahnung dessen, was auf mich zukommen würde, oder vielleicht wurde meine Wahrnehmung lediglich von der Angst über mein ungewisses Schicksal genährt: Würde Henrys Familie mich akzeptieren oder rundheraus ablehnen? Und wenn sie mich nicht aufnehmen wollte, wo sollte ich bleiben? Vermutlich konnte ich in die Wohnung zurückkehren, in der ich mit meiner Mutter gelebt hatte, und während mich diese Vorstellung sehr niederdrückte, so stählte mich gleichzeitig die Tatsache, dass ich nicht auf See gestorben war. Wo Leben war, da war auch Hoffnung. Doch war mir die Hoffnung immer als ein schwächliches Gefühl erschienen, als eine Art flehende Untätigkeit oder heimliche Kapitulation, und als die baumbestandene Küste immer näher kam und sich uns darbot wie das gelobte Land, da schwor ich mir, dass ich nicht zum Opfer werden würde. Man hatte uns gesagt, dass wir in einem Hotel untergebracht werden und dass uns Ärzte untersuchen würden. Mir blieben also ein oder zwei Tage Zeit, um zu entscheiden, was ich tun würde. Nie hätte ich mir träumen lassen, was dann geschah.
Ich war die letzte der Überlebenden, die den Landungssteg überquerte und die Hafenmole von Boston betrat. Der erste Schritt auf die grauen und wetterzerfurchten Balken war, als würde man ein schaukelndes Boot betreten. Wir waren es nicht mehr gewohnt, uns auf festem Boden zu bewegen. Der Anblick meiner Gefährten, die versuchten, ihr Gleichgewicht zu halten, war komisch, und unser Lachen war sowohl Ausdruck unserer Freude, endlich wieder an Land zu sein, als auch unserer Erkenntnis, wie sehr wir uns das Land abgewöhnt hatten. Einmal blieb ich stehen, etwa auf halbem Weg, und blickte mich nach der glitzernden Lagune des Hafenbeckens um. Über mir stand der Kapitän des Postschiffs an der Reling und wartete noch einen Moment, ehe er sich seiner Mannschaft und seiner Arbeit zuwandte. Er stand mit den Händen in die Hüften gestemmt und blinzelte in die Morgensonne, die in goldenen Bündeln durch die Wolken drang. Er sah uns nach – mir, so möchte ich glauben. Einen Moment lang schauten wir uns an, und in ihm sah ich Mr Hardie, obwohl die beiden Männer überhaupt nichts gemeinsam hatten. Mr Hardie war dunkel und drahtig gewesen, der Kapitän war groß und hatte eine Aura von Kultiviertheit an sich, die Mr Hardie gänzlich abgegangen war. Unsere Blicke trafen sich. Ich hob meine Hand leicht, und er setzte die seine an die Stirn und salutierte. Es war genau die gleiche Geste, mit der Hardie Henry gegrüßt hatte, an jenem Tag, an dem die Zarin Alexandra gesunken war. Er und Hardie hatten ein paar Worte gewechselt, die ich nicht richtig verstehen konnte. Ich wusste nur, dass eine Art Handel abgeschlossen war, denn Henrys Gesicht trug diesen Ausdruck absoluter Konzentration – wie in den Londoner Läden, wo er mir den Schmuck und die Kleider gekauft hatte, die nun auf dem Grund des Meeres lagen. Dann war Henry einen Schritt zurückgetreten und hatte die Hand erhoben, so wie ich jetzt meine, und Mr Hardie hatte salutiert, während er die andere Hand in die Innentasche seiner Jacke schob. Die goldenen Knöpfe seiner Uniform glitzerten in der Sonne. Die Mütze saß ordentlich auf seinem Kopf. Seine Wangen, glatt rasiert, waren schon damals hohl, und seine tief liegenden Augen dunkel und unergründlich.
Ich nickte. Der Kapitän des Postdampfers senkte leicht das Kinn, und das war das Letzte, was ich von ihm sah. Ich wandte mich ab, so wie er sich abwandte. Dann ging ich, wie die anderen unsicher schwankend, weiter. Als ich die steinerne Mole betrat, hatte ich mein Gleichgewicht wiedergefunden, und auch als mir klar wurde, dass niemand gekommen war, um mich abzuholen, ging ich mit sicheren Schritten weiter, einer ungewissen Zukunft entgegen.
Epilog
Der Freispruch hat nicht alle Probleme gelöst, obwohl es für Mrs Grant und Hannah, die zu lebenslanger Gefängnisstrafe verurteilt wurden, natürlich viel schlimmer ist. Dr. Cole
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