In einem Boot (German Edition)
angezogen und den Namen Mr Hardie angenommen, um mit mir ins Rettungsboot steigen zu können. Das bedeutete, dass der Mann, den ich zu töten half, Henry gewesen war! Ich zog mich am Bootsrand entlang, bis ich neben Hannah saß. Ich zitterte vor Panik, wie ich es nie zuvor erlebt hatte, und sagte: »Ich glaube, Mr Hardie war gar nicht einer von der Mannschaft.«
»Wer war er dann?«, fragte sie mich.
»Henry!«, flüsterte ich, wobei mir die Worte kaum über die geschwollene Zunge kommen wollten. »Ich glaube, wir haben Henry umgebracht.« Ich wäre in Tränen ausgebrochen, wenn in meinem Körper noch genug Flüssigkeit vorhanden gewesen wäre.
»Aber nein«, gurrte sie und legte ihre raue Handfläche an meine Wange. »Wir haben Henry nicht umgebracht. Henry war nicht in unserem Boot.« Und dann war ich wieder ich selbst. Ob ich geschlafen hatte und dann aufwachte oder einfach nur wieder zu mir kam, weiß ich nicht. Jedenfalls saß ich neben Hannah, die mit geschlossenen Augen an meiner Schulter lehnte. Den ganzen restlichen Tag durchwanderte ich in Gedanken meinen Winterpalast, nicht länger wie ein Architekt, sondern wie ein ruheloser Geist.
An diesem Abend oder vielleicht auch am nächsten öffnete der Himmel seine Schleusen und übergoss uns mit einer Sintflut. Es dauerte etliche Minuten, bis wir begriffen, was los war, und noch einmal eine halbe Stunde, bis wir das Segel so weit eingeholt hatten, dass wir das Wasser darin sammeln und in die leeren Fässer leiten konnten, so wie Hardie es uns gezeigt hatte. Wie wir das in unserem geschwächten Zustand überhaupt schafften, ist mir immer noch ein Rätsel, aber als der Regen nachließ, hatten wir so viel getrunken, dass wir beinahe wieder erbrochen hätten, und außerdem einen guten Wasservorrat für die Zeit angelegt, die uns noch blieb.
Während dieser letzten Tage lösten sich die starren Strukturen unseres Daseins gänzlich auf. Mrs Grant führte Mr Hardies Stundenplan nicht weiter, und wenn etwas getan werden musste, tat sie es selbst oder bat Hannah darum, denn uns andere zu fragen, hätte wenig Sinn gehabt, weil wir viel zu schwach und zu apathisch waren, um einer Anordnung Folge zu leisten. Wir machten auch keinen Versuch mehr, das Segel zu setzen. Es war fast so, als ob Mrs Grants Entschlossenheit von Hardies Widerstand abgehangen hatte und ohne diese Nahrung verkümmerte.
Entweder an diesem oder am nächsten Tag tauchte ein isländisches Fischerboot am Horizont auf und nahm uns an Bord. Der Zeitpunkt unserer Rettung wurde vor Gericht viel diskutiert: Wie viele Tage waren seit Hardies Tod vergangen, bis wir gerettet wurden? Wie viele Tage mussten wir es ohne Wasser aushalten? Ich wusste es nicht genau, aber nachdem ich meinen Bericht geschrieben hatte, war ich mir beinahe sicher, dass das Fischerboot eine Woche nach Hardies Tod auftauchte. Auch Hannah behauptete, es genau zu wissen: »Neun Tage später«, sagte sie unter Eid aus. Der Anklagevertreter wies auf die Tatsache hin, dass wir uns nicht einig waren, und behauptete, dass die Zeitspanne viel kürzer gewesen sei, etwa einen oder zwei Tage, was Hardies Tod »unnötig, leichtfertig und zweifellos zu einem Verbrechen« gemacht hätte.
Erst als die Fischer die Körper hochheben wollten, bemerkten wir, dass zwei der Italienerinnen tot waren. Die dritte klammerte sich an ihre Gefährtinnen, als wäre sie mit ihren Leibern verwachsen, und ließ erst dann los, als Mrs Grant beruhigend auf sie einredete. Die Fischer warfen die stinkenden Leichen ins Meer. Ich weiß noch, dass starke Hände an mir zogen und dass ich das Ruder, das man mir anvertraut hatte, nur widerwillig losließ. Ich entsinne mich auch des überwältigenden Gestanks nach Fisch, der aus dem Laderaum des Kahns drang, und an die respektvolle Haltung des Kapitäns und der Mannschaft, die – nachlässig gekleidet und unrasiert, wie sie waren – doch die Krone der Ritterlichkeit und Zivilisation zu verkörpern schienen.
Die Fischer waren sehr um uns besorgt und setzten uns das beste Essen vor, das sie hatten. Wir blieben zwei Tage auf dem Fischerboot und hielten Ausschau nach anderen Rettungsbooten, während wir auf das Postschiff warteten, das uns nach Boston bringen sollte. Mr Nilsson blieb auf dem Kahn und sagte, er würde mit dem Kapitän nach Island fahren und von dort aus nach Stockholm. Der Rest von uns verbrachte fünf weitere Tage auf dem Postschiff, und als wir Boston erreichten, ging es uns körperlich schon viel besser. Ich
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