In einem Boot (German Edition)
schlug vor, dass ich die Notizen, die ich auf Veranlassung meiner Anwälte verfasst hatte, weiterführen solle, denn was ich bräuchte, sei ein psychologischer Freispruch. »Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass ich mich nicht schuldig fühle!«, rief ich aus. Ich hatte den guten Doktor von Herzen satt. Natürlich gibt es Dinge, die ich vergessen will, aber ich frage mich, ob es wirklich sinnvoll ist, sie immer wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins zu holen. Wenn ich zum Beispiel das ohrenbetäubende Brüllen von Wind und Wellen vergessen könnte, das lächerliche Plitsch, Plitsch, Plitsch unseres kümmerlichen Bootes gegen die überragende Majestät des Ozeans, diese mickrigen Ruderstöckchen, die uns nirgendwohin brachten, die schwarzgrüne Endlosigkeit, die uns zu verschlingen drohte. Den Anblick von Rebeccas Haar vergessen, das sich auf dem Wasser ausbreitete, bevor sie unterging, und meine Erleichterung, als sie erst nicht wieder auftauchte. Vergessen vor allem meine Lust, dem Schicksal unter die Arme zu greifen, das tote Gewicht von Mrs Fleming auf dem Schoß und später das von Mary Ann. Hannah und Mrs Grant waren wenigstens in der Lage, Pläne zu schmieden und sie durchzuführen, aber mir gelangen keine Entscheidungen von irgendwelcher Konsequenz. Mehr als einmal hatte ich mir gewünscht, Anya Robeson würde mich zu ihrem kleinen Charles unter den Mantel nehmen.
Während ich dies schreibe, kommt die Nachricht, dass die Lusitania , ein transatlantischer Ozeandampfer, von deutschen U-Booten, die in der Dunkelheit der Irischen See lauerten, versenkt wurde. Sowohl ich wie auch andere fragen sich, ob auch unser Schiff ein – frühes – Opfer des Krieges wurde, aber die Behörden verneinen diese Spekulation. Sowohl die Zeit als auch der Ort passten nicht zum Kriegsgeschehen, meinen sie. Und selbst wenn es so gewesen wäre, würde das irgendetwas ändern? Ich muss lächeln, wenn ich daran denke, wie Mr Sinclair mir mit einem entschiedenen »Nein!« geantwortet hätte, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich seiner Meinung bin. Auch die Behörden können sich irren. Zu wissen, dass ich nicht das Opfer von Geldgier oder Unvorsichtigkeit wurde, sondern zwischen die Fronten eines weltumspannenden Konflikts geriet, würde mir ein Gefühl von Bedeutung und Wichtigkeit geben.
Nachdem ich Hardie aus dem Boot gestoßen hatte, lag ausnahmsweise ich mit dem Kopf in Mary Anns Schoß. Ich schlief tief und fest, und dann wurde ich mit einem Mal wach, weil ich das Gefühl hatte, dass Mary Ann mit mir redete. »Ich habe nur so getan, als ob ich ohnmächtig wäre«, hörte ich sie sagen. »Ich könnte niemals jemanden umbringen, aber bei dir hatte Mrs Grant keinen Zweifel.« Später in der Nacht sagte sie: »Ich werde ihnen sagen, wer es war, wenn wir jemals gerettet werden. Ich werde ihnen sagen, dass du es warst, und ich werde ihnen von den Juwelen erzählen, mit denen du dir deinen Platz in diesem Boot erkauft hast.«
»Da waren keine Juwelen, Mary Ann«, sagte ich, oder vielleicht sagte ich es auch nicht, denn etwa ab diesem Zeitpunkt verwirrten sich meine Gedanken, und ich konnte mir nicht mehr sicher sein, ob ich die Dinge träumte oder wirklich erlebte.
Seit etwa einem Jahr kaut Dr. Cole die Ereignisse jener einundzwanzig Tage mit mir durch. Er hört sich mittlerweile an wie der Ankläger vor Gericht. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr darüber reden werde. Gewiss hat mich die ganze Sache erschüttert und geprägt, aber nicht so, wie er glaubt! Und das will er einfach nicht akzeptieren. Ich weiß nicht, wie es mir helfen soll, jeden Tag diese Strapazen wieder und wieder zu durchleben, in allen Einzelheiten, während doch der Grund meiner Angst viel mehr in dem Gerichtsverfahren und in der Sorge um meine Zukunft zu suchen ist. Es war nicht das Meer, das sich grausam benahm, sondern die Menschen. Warum sollte das irgendjemanden überraschen? Warum saßen die Geschworenen mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen auf ihren Bänken? Warum verfolgten uns die Reporter wie eine Meute hungriger Wölfe? Kinder!, dachte ich. Ich würde nie wieder ein Kind sein.
Ich dulde es nicht mehr, wenn sich ein unbedeutendes menschliches Wesen über andere erhebt – ob er sich nun Priester nennt, Arzt oder Richter – und uns seine Weisheit verkündet, die er als die absolute Wahrheit verkauft. Sobald sich jemand etwas Derartiges erdreistet, falle ich ihm ins Wort oder verlasse den Raum oder, falls dies nicht möglich
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