In einem Boot (German Edition)
antrieb, tat ich so, als würde ich in der Menge nach jemandem suchen. Aber er war viel zu abgelenkt, um mich zu bemerken. Als sie eine Treppe nach unten stiegen, ließ ich mich weit zurückfallen. Mein Herz hämmerte, als ob ich ein ungeschriebenes Gesetz brechen würde, aber auch aus einiger Entfernung konnte ich verstehen, was gesprochen wurde. In dem engen Gang hallten die Worte laut und deutlich wider. Die Gruppe blieb vor einer Tür neben dem Büro des Zahlmeisters stehen, und der Kapitän fragte: »Haben Sie den Schlüssel dabei, Mr Blake?« Ich blieb in den Schatten und huschte dann wieder die Treppe hinauf, damit man mich nicht entdeckte, wenn die Männer ihre Aufgabe erledigt hatten. Ich vermutete, dass die Tür zu besagtem Tresorraum führte, wo man das Kästchen mit Henrys kostbarer Taschenuhr, meinen Ringen sowie der Halskette eingeschlossen hatte, die Henry mir in London gekauft hatte. Und weil ich sah, was ich sah, wusste ich, dass Penelope Cumberland die Wahrheit sagte, als sie mir von den zwei Truhen voll Gold erzählte.
Henry war mehr als ich an den anderen Passagieren interessiert, aber ich hatte immer seine volle Aufmerksamkeit, und er befriedigte mein Verlangen nach menschlicher Gesellschaft, das nie besonders ausgeprägt gewesen war, zur Genüge. Wenn ich ihn darum gebeten hätte, hätte er darauf verzichtet, in den Rauchersalon zu gehen, um Karten zu spielen und über Politik zu reden. Aber das tat ich nicht. Ich genoss es, Zeit für mich selbst zu haben, um mein Haar zu richten und unsere Kabine vorzubereiten, ehe Henry zu Bett kam. Ich schaute gerne aus dem Bullauge und betrachtete den Mond über dem Wasser und konnte mir nicht oft genug gratulieren, dass ich Henry kennengelernt hatte, als ich schon fürchtete, ein Dasein als Gouvernante fristen zu müssen. In der Sicherheit und Einsamkeit meiner Luxuskabine mit der Bettwäsche aus belgischem Leinen und dem Waschbecken aus Porzellan konnte ich über die Ereignisse des vergangenen Jahres nachsinnen und versuchen, Ordnung in die unterschiedlichen Facetten meines Lebens zu bringen. Doch wie sehr ich auch über sie nachdachte, von meinen Eltern blieb mir stets nur eine Gewissheit: dass sie schwach waren.
Die Geschäftspartner meines Vaters, die ihn betrogen hatten, brachten ihn auch ums Leben, denn als offenkundig wurde, dass er nicht über die Patente verfügte, auf die sein Geschäft angewiesen war und für die er nicht nur seine Büroräume, sondern auch das Haus, in dem wir wohnten, verpfändet hatte, erschoss er sich. Was hatte Papa sich dabei gedacht? Wie sollten eine Witwe und ihre zwei Töchter ohne ihn zurechtkommen? Meine Mutter warf klagend die Hände hoch, ließ die Haare herab, und wenn die Kinder sie auf ihrem Bettelzug durch die Geschäfte kommen sahen, machten sie einen großen Bogen um sie. Meine Schwester Miranda krempelte die Ärmel hoch und verschaffte sich eine Anstellung als Gouvernante, aber als sie mich dazu bringen wollte, es ihr gleichzutun, leistete ich Widerstand. In mir war ein Erbe meiner Mutter, das mich verlockte, ebenfalls die Hände in den Schoß zu legen und auf Rettung zu hoffen, aber ich trug auch etwas von Mirandas Entschlusskraft in meinem Herzen. Es war vielleicht die gleiche Kraft, die meinen Vater dazu getrieben hatte, sich das Leben zu nehmen, anstatt der Armut ins Auge zu blicken, was wieder einmal beweist, dass Tugend und Laster oft ein und dasselbe sind, nur in unterschiedlicher Ausprägung. Wie auch immer, diese Saite war in mir anders gestimmt als in meiner Schwester, und ich gebe zu, dass meine Mutter mich als Kind oft dickköpfig nannte. Papa war kaum unter der Erde, als Miranda schon ihre französische Grammatik und die Arithmetik aufpolierte und kurz darauf auf dem Weg nach Chicago war, von wo aus sie beängstigende Briefe über ihre Arbeit schickte, mit expliziten Details über die tägliche Routine der Kinder und Berichten über ihren schulischen Fortschritt. Vielleicht war ich aber auch nicht im Mindesten entscheidungsfreudig. Vielleicht war ich hoffnungslos romantisch, wie meine Mutter, nur dass ich das Glück hatte, dem Wahnsinn zu entgehen, indem ich die Romantik und die finanzielle Absicherung fand, nach der mein Herz verlangte.
Als Henry und ich unsere Reise nach London antraten, wurde der Erzherzog und Thronfolger Österreich-Ungarns von serbischen Nationalisten ermordet, während er die bosnische Hauptstadt Sarajevo besuchte. Österreich-Ungarn erklärte daraufhin den Serben den
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