In einem Boot (German Edition)
Hause kämen. Ich war maßlos überrascht, als sie plötzlich erklärte: »Da wir ja alle so ehrlich miteinander sind, sollte nicht verschwiegen werden, dass Grace eigentlich gar nicht in diesem Rettungsboot sitzen dürfte.«
»Unsinn«, sagte Mary Ann in jenem besänftigenden Ton, mit dem sie schon die ganze Zeit mit Mrs Fleming gesprochen hatte.
»Vielleicht haben Sie es nicht gesehen, Mary Ann, ich aber schon. Grace ist der Grund, warum dieses Boot überfüllt ist. Haben Sie nicht gehört, was Mr Hoffman sagte? Dass man das Boot absenkte und dann wieder ein Stück nach oben zog, ehe man es endgültig zu Wasser ließ? Mr Hardie half den Leuten einzusteigen und hatte schon mit dem Ablassen begonnen, als Grace und ihr Ehemann auftauchten und etwas zu ihm sagten. Worum ging es bei dem Gespräch, Grace? Das möchten wir wirklich gerne wissen. Ich sah es, weil ich dachte, dass Emmy ins Boot steigen würde. Sie war direkt hinter mir. Man sagte mir, ich solle wegen meiner Hand zuerst einsteigen, aber das hätte ich nie getan, wenn ich nicht völlig sicher gewesen wäre, dass meine Tochter ebenfalls käme. Was hat Ihr Ehemann Mr Hardie versprochen? Man hat das Boot wieder hochgezogen, damit Mr Hardie und Grace einsteigen konnten. Und dabei, so sagt Mr Hoffman, wurde Emmy getroffen. Wenn Grace es uns nicht sagen will, dann vielleicht Mr Hardie!«
»Wenn das Boot wieder ein Stück hochgezogen wurde, dann um es im Gleichgewicht zu halten«, gab Hardie barsch zurück. »Das Schiff neigte sich fast zwanzig Grad zur Seite, die Decks waren so glitschig wie Öl, und die Leute klammerten sich an jeden, der eine Uniform trug. Ich hätte zu gerne gesehen, wie ihr Landratten unter diesen Bedingungen mit den Winden zurechtgekommen wärt!«
»Man hat das Boot wegen Ihnen und Grace wieder nach oben geholt – aus keinem anderen Grund. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!«
»Aber, aber«, sagte ich, denn ich erinnerte mich überhaupt nicht, wie ich in das Boot gekommen war. Ich weiß noch, dass ich Rauch von der Brücke hatte aufsteigen sehen und dass ich mich in meinem Schrecken und meiner Verwirrung an Henrys Hand geklammert hatte und ihm blind gefolgt war. Ich hatte nur einen Fuß vor den anderen gesetzt und alles getan, was mir gesagt wurde, bis ich hochgehoben und in das Boot gesetzt wurde. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und so murmelte ich nur bedeutungslose Phrasen und wollte Mrs Fleming an meine Brust ziehen, aber sie beharrte: »Stimmt es oder stimmt es nicht, dass dieses Boot Ihretwegen überfüllt ist? Ist es Ihre Schuld oder nicht, dass meine kleine Emmy tot ist?« Ihre Stimme brach und wurde dumpf. Ringsum hatten sich unsere Gefährten schon wieder anderen Themen zugewandt und hörten uns vermutlich nicht. Nur Mary Ann folgte unserem Gespräch, denn sie half mir mit Mrs Fleming. Irgendwann sagte sie in dem Versuch, die verzweifelte Frau zu beruhigen: »Aber meine Liebe, einer mehr oder weniger macht doch keinen Unterschied.«
»Es war nicht bloß einer«, zischte Mrs Fleming, als ob sie ein schreckliches Geheimnis verraten würde. »Es waren sie und Hardie. Das macht zwei, nicht wahr? Ich zähle jedenfalls zwei.«
»Und dafür müssen wir Gott danken«, sagte Mary Ann. »Ohne Mr Hardie wären wir verloren.«
»Und wir sind auch mit ihm verloren!«, heulte Mrs Fleming. »Denken Sie an meine Worte!«
Mary Ann und ich wechselten einen Blick, aber Mrs Fleming versank in erschöpftes Schweigen. Ich saß den ganzen Nachmittag mit meinem Arm um ihre Schultern da und flüsterte ihr aufmunternde Worte zu, wie ich es bei einem Kind tun würde. Sie schien eine Weile zu schlafen, aber als sie aufschreckte, machte sie ansatzlos dort weiter, wo sie aufgehört hatte: »Sie dürften nicht hier sein. Meine Emmy sollte bei mir sein, aber Ihr Ehemann hat Ihnen eine Fahrkarte erkauft, nicht wahr? Das ist die einzig logische Erklärung. Wenn Ihr Geld nicht wäre, wäre das Boot nicht so überfüllt. Wenn Ihr Geld nicht wäre, wäre meine kleine Emmy nicht tot.«
Ich blieb ruhig, denn es war ganz natürlich, dass sie aufgewühlt war und Unsinn redete. Ich erwiderte, dass niemand ohne Fahrschein die Zarin Alexandra betreten durfte. »Sie wollen mich absichtlich missverstehen«, erwiderte sie mit scheinbarer Beherrschtheit, aber dann verlor sie die Kontrolle und schrie: »Sie sollten gar nicht hier sein! Sie sollten gar nicht hier sein!« Es waren drei Männer nötig, um sie zu bändigen. Schließlich wurde sie ruhiger und sank
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