In einem Boot (German Edition)
vermuten.
Mr Hardie hatte die Frühstücksration Schiffszwieback verteilt und ließ die Blechtasse herumgehen, wobei er uns ermahnte, jeweils nur einen Drittel Becher zu uns zu nehmen; mehr stünde uns nicht zu. Ich hielt mich daran und nahm mir nur meinen Teil, aber ich gehörte zu der Minderheit. Grimmig schaute Hardie zu, wie sich die Leute um die Tasse balgten und etwas von dem kostbaren Trinkwasser verschüttet wurde. »Schaut euch an, wie die Kinder!«, sagte er. Von da an maß er jede Portion Wasser persönlich ab.
Als Mrs Fleming erneut laut überlegte, was wohl aus ihrer Tochter geworden sei, brach es aus Isabelle hervor: »Sie hat ein Recht, es zu wissen. Ich würde nicht wollen, dass man die Wahrheit vor mir verbirgt.« Und trotz Mrs Grants barscher Worte, dass Isabelle nicht wisse, was sie rede, sagte Mr Preston: »Ich habe es auch gesehen.« Das führte dazu, dass Mrs Fleming aufsprang, über unsere Beine kletterte und sich ins Boot kauerte, direkt neben Isabelle und Mr Preston. Sie krallte sich an ihre Ärmel und fragte: »Was gesehen? Was haben Sie gesehen? In welches Rettungsboot ist sie eingestiegen? Sie war doch nicht in dem direkt hinter uns, aus dem alle Leute heraus und ins Wasser fielen, oder doch?« Mr Preston schaute nervös von Mrs Fleming zu Mrs Grant und schwieg.
»Sagen Sie es mir, verdammt noch mal! Sie können doch jetzt nicht einfach aufhören zu reden!«, kreischte Mrs Fleming. Ihre verletzte Hand wedelte grotesk am Ende ihres Arms auf und ab. »Es war doch das nächste Boot, das umgekippt ist, nicht wahr? Ich sah es mit meinen eigenen Augen. Waren Emmy und Gordon in diesem Boot oder nicht?«
»Es war nicht …«, setzte Mr Preston an.
»Machen Sie schon! Sagen Sie es ihr«, sagte Mr Hoffman. »Sie sind doch berühmt für Ihre Genauigkeit und Ihr Auge für Details, stimmt’s?«
»Ja, sagen Sie es mir!«, kreischte sie erneut und erhob sich von dem nassen Boden des Bootes, wo das Wasser ständig hin und her schwappte, egal, wie eifrig wir auch schöpften. Ich griff nach ihr und wollte ihr helfen, aber es war Hannah, die sie schließlich zwischen mich und Mary Ann drückte, und es war Mrs Grant, die die Armschlinge zurechtrückte und eine Decke über ihre Schultern legte. Sie zitterte; ihr Kleid war nass geworden.
»Der Schaden ist bereits angerichtet«, sagte Mr Hoffman. »Jetzt können Sie ihr genauso gut noch den Rest erzählen.«
»Sie haben es auch gesehen?« Mrs Flemings Augen, in denen der Wahnsinn stand, richteten sich nun auf Mr Hoffman, der erwiderte: »Ja, wenn Sie es genau wissen wollen. Ja, ich habe es gesehen.« Keiner sonst sagte etwas. Selbst der Diakon schien sich in seinen Mantel zu ducken aus Angst vor der Verzweiflung, die uns erwartete.
Mr Hoffman sprach ohne jede Gefühlsregung. »Sie wurde von diesem Boot getroffen, als man es wieder an Bord zog. Sie wurde vom Schiff geschleudert. Ich sah, wie sie ins Wasser fiel. Sie ist vermutlich ertrunken.«
»Das wissen wir nicht«, sagte Hannah. »Woher wollen Sie das denn wissen?«
»Vielleicht wurde sie gerettet«, warf der Diakon mit sanfter Stimme ein, und mir war klar, dass wir alle, ausnahmslos, an den kleinen Jungen mit der Krawatte dachten und an die Männer, die Hardie und Nilsson mit den Ruderblättern vom Boot weggeprügelt hatten. Mrs Fleming zitterte unkontrolliert und sagte immer wieder: »Danke. Es ist besser, der Wahrheit ins Auge zu sehen.« Aber ich fragte mich, ob man Mr Hoffmans Worten unbedingt Glauben schenken konnte. Schließlich hatte ein heilloses Durcheinander geherrscht.
Kurz bevor es dunkel wurde, fingen zwei der Italienerinnen, die bislang meist geschwiegen hatten, plötzlich und unerklärlicherweise an zu schreien und bekreuzigten sich wiederholt, während sie sich fest aneinanderklammerten. Mr Sinclair, der Krüppel, übersetzte für uns, dass sie gebetet und die göttliche Eingebung erfahren hatten, dass die Hälfte von uns nicht überleben würde. »Das bedeutet, die andere Hälfte wird überleben«, verkündete Mrs Grant. Ihr Blick machte unmissverständlich klar, dass sie nichts mehr davon hören wollte.
Mrs Fleming schien sich wieder etwas gefasst zu haben, und ich darf wohl sagen, dass ich nicht unerheblichen Anteil daran hatte. Ich hielt sie im Arm und versicherte ihr: »Es ist nur irgendeine Geschichte. Sie ist vermutlich nicht einmal wahr.« Dann erzählte ich ihr von meiner kurzen, aber glücklichen Ehe mit Henry und dass wir einen Hochzeitsempfang planten, wenn wir nach
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