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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Rogan
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zwischen Hannah und mir zusammen. Ich wusste nicht, ob sie eingeschlafen oder in eine Art Dämmerzustand verfallen war. Mary Ann übernahm meine Schicht beim Schöpfen, damit wir sie nicht aufweckten.
    Es war bewölkt, und an diesem Tag ging die Sonne nicht unter; sie verblasste viel eher. Aber in dem schwächer werdenden Licht erkannte ich, dass Mrs Fleming eine tiefe Ruhe gefunden hatte. Als sie um den Schöpfeimer bat, nahm ich an, dass ein bestimmtes Bedürfnis sie plagte. Ich hatte keine Ahnung, dass sie beabsichtigte, Meerwasser zu trinken. Ich sah es nicht, aber in der Nacht spürte ich, wie sie zitterte, und so zog ich ihr die Decke über die Schultern, die nach unten gerutscht war. Hannah und ich hielten sie abwechselnd fest in den Armen. In der Nacht fing sie an, unzusammenhängendes Zeug zu murmeln, und am Morgen war sie tot. Später, nachdem sich Mr Hoffman auf Hardies Seite geschlagen hatte, sah Mrs Grant diese Begebenheit als Beweis für Hoffmans Verrat an. Er hatte Mrs Fleming mit der Wahrheit getötet.

Die Zarin Alexandra
    Die Insassen des Rettungsbootes erzählten sich, dass sie Mr Hardie schon auf der Zarin Alexandra gesehen hätten, wie er mit düsterem Blick – ein Spiegel für die Bosheit seines Herzens – seinen Pflichten nachgekommen war. Ich dagegen hatte ihn vor dem Tag des Unglücks nie bemerkt. Ich betrachtete die Matrosen und Stewards als uniformierte Möbelstücke, die bequemerweise immer da standen, wo man sie brauchte, und mit »man« meine ich hauptsächlich Henry und mich. Ich war bezaubert, nicht nur von der Pracht des Schiffs, sondern von Henry, der aus gutem Haus stammte und vermögend war und sich als wahrer Gentleman erwies. In London hatte Henry für mich eine neue Garderobe erstanden, und ich schwebte über das Deck wie eine Märchenprinzessin, die sich überdeutlich ihrer Umgebung bewusst ist, aber nur das wahrnimmt, was ihr gefällt. So bemerkte ich die Kerzenleuchter und die Champagnerflöten, die Sonnenuntergänge, die kübelweise Farben über den Himmel ausgossen, aber nicht die raffinierte Mechanik, die es ermöglichte, dass die Mahlzeiten rechtzeitig serviert wurden und das Schiff auf Kurs blieb. Ich habe schon erwähnt, dass ich Colonel Marsh und Mrs Forester an Bord gesehen hatte; nach einer Weile erinnerte ich mich auch an Mrs McCain, die man oft beim Bridge-Spiel antraf oder im Lesesaal. An ihre Gesellschafterin Mrs Cook oder an Lisette, ihr Dienstmädchen, erinnerte ich mich nicht.
    Später hatte ich viel Zeit, über das Schiff nachzudenken – darüber, woran ich mich erinnerte, und darüber, was ich vergessen hatte. Und ich versuchte anzuwenden, was Mr Sinclair uns über die Wissenschaft von Erinnern und Vergessen erzählt hatte. Dr. Cole erklärte mir, dass der menschliche Geist traumatische Erlebnisse zu unterdrücken vermag, und das entspricht vermutlich der Wahrheit, aber manchmal glaube ich, dass die Unfähigkeit, sich zu erinnern, nicht so sehr Ausdruck einer Krankheit ist, sondern die natürliche Konsequenz einer Notwendigkeit. Denn jeder einzelne Moment hält Hunderte von Dingen bereit, an die sich ein Mensch erinnern könnte, doch verfügt er nur über ein sehr begrenztes Aufnahmevermögen.
    An einen Vorfall mit der Crew der Zarin Alexandra erinnere ich mich allerdings. Als das Schiff in Liverpool bereit zum Auslaufen war, stand ich an der Reling und blickte voller Staunen auf die vielen Menschen, die sich versammelt hatten, um uns zuzuwinken und uns Glück zu wünschen. Da kam Captain Sutter im Marschschritt über das Deck gelaufen, als müsste er an sich halten, nicht zu rennen. Seine Stiefel hämmerten geradezu auf die Planken, und ihm folgten ein paar Matrosen, die sich mit zwei schweren, großen, mit massiven Schlössern versehenen Holzkisten abmühten. Der Kapitän warf ständig einen Blick über die Schulter und murmelte: »Ihr Idioten!« Dann blickte er wieder voraus und rief: »Ich bitte um Verzeihung! Bitte verzeihen Sie!«, um den Männern mit den Kisten einen Weg durch die Passagiere zu bahnen, welche die Decks bevölkerten und ihren Lieben am Kai zuwinkten.
    »Warum haben Sie die nicht direkt in den Tresorraum gebracht?«, zischte der Kapitän seinen Männern zu, als die Gruppe an mir vorbeirauschte. »Genauso gut hätten Sie eine Anzeige in der Morgenzeitung schalten können, damit jeder Dieb genau weiß, wonach er suchen soll!«
    Ich folgte ihnen in einiger Entfernung, und jedes Mal wenn der Kapitän sich umschaute und seine Männer

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