In einem Boot (German Edition)
Männern und Frauen der Menschheitsgeschichte, die an irgendeinem Punkt zu der Gewissheit gekommen waren, dass das Leben nichts weiter ist als ein beständiges Abwärtsgleiten, dass am Ende jedem Einzelnen das Wasser bis zum Hals steht und dass die Fähigkeit, sich selbst und die wahre Natur des Lebens zu erkennen, den Menschen vom Tier unterscheidet.
Anders gesagt: An jenem elften Tag fühlte ich mich so lebendig wie nie zuvor. Ich vergaß meinen leeren Magen und meine nassen Füße. Ich glaubte nicht mehr daran, dass uns ein Schiff aufnehmen oder dass Henry auf mich warten würde, wenn wir an Land kamen. Ich betrachtete meine rauen, wunden, aufgeschürften Hände und definierte meinen Leitspruch neu: Gott hilft denen, die sich selbst helfen. War Gott überhaupt ein notwendiger Bestandteil dieser Gleichung? Konnten die Menschen nicht gut oder stark sein, ohne diese Güte oder Stärke jedes Mal Gott zuschreiben zu müssen? Während der Nacht hatte es so stark geregnet, dass wir Wasser in den Fässern sammeln konnten. Dank Hardies Weitsicht hatten wir genug zu trinken.
Der Tag begann klar, und obwohl eine frische Brise wehte, waren die Wellen erträglich und rollten unter uns hinweg, statt über uns zu brechen. Dank der geringeren Anzahl an Insassen konnten wir das Gewicht innerhalb des Bootes besser verlagern, um das Schaukeln und Schlingern auszugleichen. Und nachdem es Hardie gelungen war, das Loch, so gut es ging, zu stopfen, befestigte er die Abdeckplane erneut an den beiden Rudern, setzte Segel und wieder wurden wir mit guter Geschwindigkeit übers Wasser getrieben. Mr Nilsson saß am Steuer, und der Rest von uns breitete die Decken über unseren Knien aus, damit sie in der Sonne trockneten. Die Strahlen der Sonne wärmten schließlich auch uns, allerdings wurde unsere Haut so trocken, dass sie fast aufgerissen wäre. Über den Blasen an meinen Händen hatte sich neue Haut gebildet, und ich staunte über die Fähigkeit des Körpers, sich selbst zu heilen, sich an das Leben zu klammern, auch noch im Angesicht des Todes.
Ausnahmsweise hatten wir genug zu trinken, aber nichts zu essen, und die Vorstellung eines langsamen Hungertodes schlich sich in unsere Köpfe. Ich fragte Mr Preston, wie lange ein Mensch ohne Nahrung überleben konnte, und er meinte, zwischen vier und sechs Wochen. »Vorausgesetzt, man hat genügend Wasser«, fügte er hinzu.
»Dann hocken wir hier wohl noch ein bisschen länger«, sagte ich, und er antwortete, das wäre wohl so, aber er wirkte niedergeschlagen, und ich sagte: »Ich glaube, wir werden es schaffen«, obwohl alles dagegensprach.
Da erzählte mir Mr Preston, was ihm einmal ein befreundeter Arzt gesagt hatte: »Verhungern ist nicht nur eine Sache des Körpers«, meinte er. »Es hängt auch mit dem Geist zusammen. Menschen, die dagegen ankämpfen, werden eher überleben als solche, die ihre Willenskraft verlieren.«
»Dann müssen wir kämpfen«, sagte ich, aber ich fühlte, wie mein Herz flatterte.
»Ich denke an Doris«, sagte er zu mir. »Aus Doris beziehe ich meine Kraft.« Ich nahm an, dass Doris seine Frau war, obwohl er es nicht ausdrücklich sagte. »Ich selbst bin nicht so wichtig, aber ihretwegen muss ich überleben!«
»Aber wollen Sie denn nicht auch leben?«, fragte ich, verblüfft von der Leidenschaft, mit der er gesprochen hatte. »Wollen Sie nicht für sich leben?«
Seine Lippen waren aufgeplatzt und zum Zweifachen ihrer normalen Größe angeschwollen und seine Hände, die während des Sturms mit den Rudern gegen die brausenden Wellen gekämpft hatten, nur noch zwei blutige Klumpen. Er hielt sie zu Fäusten geballt, und ich sah sie nur dann deutlich, wenn das Boot hüpfte und er sich an irgendetwas festhalten musste. Seine Schultern zitterten kurz, aber seine dünne Stimme war fest, als er mir erzählte, dass er jeden Tag in ein ungeheiztes Lagerhaus ging, wo er bei trübem Licht lange Zahlenreihen in Kontenbücher eintrug. Wenn er das jahrein, jahraus aushielte, so meinte er, damit er und Doris Essen auf dem Tisch und einen anständigen Platz zum Wohnen hätten, dann könne er alles aushalten. Ich dachte an meine Schwester Miranda, die ich nie für besonders stark gehalten hatte. Sie erschien mir als eine Mischung aus Mr Preston und Mary Ann, und ich fragte mich, wie sie sich gehalten hätte, wenn sie an meiner Stelle in diesem Boot gesessen hätte.
Nachdem wir unser Elternhaus hatten verkaufen müssen, überredete mich Miranda, ihm einen Besuch abzustatten.
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