In einem Boot (German Edition)
und all jene, die mit mir im Boot saßen, wegen irgendetwas angeklagt werden sollten, dann deswegen.
Vielleicht lag es an den nassen Kleidern, dass ich mich so elend fühlte, oder vielleicht hielten mich die plötzlichen Gefühle des Bedauerns über das Schicksal des Kindes wach, aber während sich meine Gedanken noch im Kreis drehten, merkte ich, dass Mrs Grant, die auf der anderen Seite von Mary Ann saß, hinauf in den Himmel schaute, wo jetzt ein paar Sterne aufblitzten. Mary Anns Kopf lag auf meinem Schoß, und so befand sich zwischen mir und Mrs Grant der offene Raum. Sie merkte, dass ich wach war, und zum ersten und letzten Mal auf unserer unglücklichen Reise nahm sie meine Hand. Ich sagte ihr, dass ich an das Kind dachte, und sie sagte: »Das hat keinen Sinn. Was getan ist, ist getan.« Dann sprudelte ich die Geschichte von der Marconi heraus und erzählte ihr von meiner Vermutung, dass Mr Hardie uns nicht die Wahrheit über die Notsignale gesagt hatte. Sie dankte mir für meine Offenheit und sagte dann leise: »Wenn wir das nur früher gewusst hätten …« Was dann gewesen wäre, sagte sie nicht. Was wäre dann gewesen? Hätten wir uns an diesen ersten Tagen anders verhalten? Außer dass wir früher damit angefangen hätten, Leute aus dem Boot zu werfen, ein Segel zu setzen oder nach Europa zu rudern, als wir noch die Kraft dazu hatten, wüsste ich nicht, was wir sonst hätten tun können.
Nicht lange danach stellte sich heraus, dass die beiden Schwestern, die still im hinteren Teil des Bootes gesessen hatten, spurlos verschwunden waren. Niemand hatte gesehen, wie sie über Bord gingen, und obwohl Mary Ann kein einziges Wort mit ihnen gewechselt hatte, war sie von ihrem Verschwinden sehr betroffen. Vielleicht nahm sie es als ein böses Omen, weil die beiden in unserem Alter gewesen waren. Sie wandte sich mit wildem Blick mir zu und fragte: »Glauben Sie, dass wir sterben werden?« Zu diesem Zeitpunkt war ich fest davon überzeugt und war versucht, ihr das auch zu sagen. Ich war durch die jüngsten Vorkommnisse genauso erschüttert wie Mary Ann, und mir war ihre Erwartung, ich wüsste die Antworten auf alle Fragen oder hätte die Kraft, alle Unbill zu ertragen, eine Last. Am liebsten hätte ich geschrien: »Natürlich werden wir sterben! Die beiden Schwestern können sich glücklich schätzen! Sie haben es hinter sich!« Aber ich tat es nicht. Ich legte meine Hand auf ihre Schulter, so wie ich mir wünschte, jemand würde mir die Hand auf die Schulter legen, und murmelte ein kleines Bittgebet. So etwas wie »Gott beschütze uns«, aber vielleicht sagte ich auch: »Mr Hardie tut, was er kann. Ich vertraue ihm auch jetzt noch.«
Der Sturm hatte ein weiteres Souvenir zurückgelassen: Was immer gegen uns gestoßen war, hatte ein faustgroßes Loch in die Seite des Bootes geschlagen, kurz unterhalb des Dollbords an Steuerbord. Ein kleiner Wasserfall ergoss sich stetig in unser Boot, und Mr Hardie verbrachte den Rest der Nacht damit, das Loch zu stopfen. In dieser Beziehung also waren wir nicht besser dran als vorher.
Elfter Tag
Die beiden Schwestern eingerechnet, nicht aber Mrs Forester, die noch zwei weitere Tage auf den Decken dahinsiechte, hatten wir acht unserer ursprünglich neununddreißig Insassen verloren. »Wir hätten Mr Turner oder den Diakon oder Mr Sinclair gar nicht umbringen müssen!«, schrie Mary Ann. »Wir hätten noch einen Tag länger warten können!«
»Halten Sie den Mund, Sie Närrin!«, schrie Hardie zurück. »Wir wären letzte Nacht beinahe abgesoffen, oder ist Ihnen das nicht aufgefallen? Merken Sie nicht, dass wir immer noch Wasser aufnehmen? Das heißt, dass wir immer noch zu schwer sind, und statt zu wenig zu essen haben wir nun gar nichts mehr.« Da fiel mir auf, dass Hardie irgendwie kleiner geworden war. Er war extrem eingefallen und schien geschrumpft zu sein. Zum ersten Mal war er untätig und wirkte müde. Er hielt sich mit der linken Hand die Seite, als ob er während des tosenden Sturms eine Verletzung davongetragen hätte. Ihn so zu sehen, gefiel mir gar nicht, aber seine Schwäche schien Hannah Mut zu verleihen, denn sie ging im Boot umher und brachte die Dinge auf ihre Weise in Ordnung. Hardie betrachtete sie, wie ein verletzter Hund eine hungrige Wildkatze betrachten mochte.
Ich wusste, dass uns der Tod erwartete. Das Überraschende daran war, dass wir überhaupt noch am Leben waren. Während des ganzen Tages fühlte ich eine enge Verbindung zu den zahllosen
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