In einem Boot (German Edition)
ausgesprochen, was viele im Boot dachten – dass Mr Hardie nicht mehr fähig war, uns anzuführen, dass er Entscheidungen getroffen hatte, für deren Richtigkeit wir nur sein Wort hatten, und dass unschuldige Menschen gestorben waren, die, wenn wir anders gehandelt hätten, noch leben könnten. Ob Mrs Grant mit ihrem Verdacht, Mr Hardie habe aus selbstsüchtigen Gründen gehandelt, recht hatte oder nicht, spielte keine Rolle. Nachdem der Verdacht im Raum stand, konnte ihn niemand mehr ignorieren. Wo immer auch die Wahrheit liegen mochte, unsere Situation war jetzt gefährlicher als zuvor, denn wir fühlten uns nicht nur durch die Kräfte der Natur bedroht, sondern auch durch unsere Kameraden, die unser Schicksal teilten.
Die Nacht dehnte sich schier endlos. Wolken verdunkelten den Mond und legten eine dichte Decke über den Himmel, sodass man nicht erkennen konnte, wer sich im Boot bewegte oder wer aufschrie. Ich vermute, dass Mrs Grant ein paar von den Leuten, die in Mr Hardies Nähe saßen, beauftragt hatte, über ihn zu wachen, und als im Morgengrauen eine der Frauen im Heck des Bootes einen markerschütternden Schrei ausstieß, war ich mir sicher, dass sie gerade ermordet wurde. Aber einen Moment später hörte ich das Rascheln von Röcken und fühlte, wie sich das Gewicht des Bootes verlagerte. Dann vernahm ich Mrs Grants besänftigende Stimme, die wem auch immer versicherte, dass alles in Ordnung sei. Schließlich warf die Sonne ein graues Morgenlicht auf uns, hellte unsere schwimmende Welt allmählich auf. Aber alle Hoffnung, dass ein neuer Morgen das Drama des vergangenen Tages vergessen lassen würde, sollte sich zerschlagen.
Vierzehnter Tag
Alle waren merkwürdig ruhig, als Mrs Grant, nachdem die Sonne ganz aufgegangen war, eine Abstimmung darüber verlangte, ob Mr Hardie über Bord gehen sollte oder nicht. Ich kann diesen Gleichmut nur damit erklären, dass zwischen Mrs Grant und den anderen Insassen des Bootes mittlerweile ein großes Vertrauensverhältnis herrschte. Vielleicht lag es auch daran, dass der Tag, der aufzog, windstill war, grau und trübe. Nur Anya Robeson zeigte sich schockiert, als ob ihr die Ereignisse, die sich auf dem Boot abspielten, erst jetzt bewusst würden. »Was ist mit dem anderen Rettungsboot?«, fragte sie, wobei sie ihrem Sohn die Ohren zuhielt. »Wenn ihr ihn hier nicht haben wollt, könnte er doch dorthin gehen!«
Rückblickend muss ich Anya Robeson zubilligen, dass sie wenigstens versuchte, einen Mittelweg zu finden, aber damals schien dieser Vorschlag völlig unrealistisch zu sein, ja beinahe wahnwitzig. Zum einen war das andere Boot nirgends zu sehen, also hatten wir auch keine Möglichkeit, mit den Insassen Kontakt aufzunehmen. Und zum anderen betrachteten wir uns mittlerweile wohl als ganz und gar abgespalten von der menschlichen Gesellschaft; die Vorstellung, von außerhalb dieses Bootes Hilfe zu erlangen, kam uns völlig unwirklich vor. Mrs Grant antwortete Anya Robeson freundlich. Ich kann mich an den Ton erinnern, aber nicht an die Worte. »›Ja‹ bedeutet, er stirbt«, sagte Hannah, damit es bei der Abstimmung zu keinerlei Missverständnissen kommen konnte. Aber Mary Ann wandte sich mir mit wildem Blick zu und zischte: »Was? Was will sie von uns?«
Ich benahm mich Mary Ann gegenüber zunehmend rücksichtslos. Sie schien zu glauben, dass sich die Leute um sie kümmern würden, trotz ihrer Anschuldigungen und ihrer Hysterie. Die ganze Zeit hatte ihre scheue Unentschlossenheit mir Kraft verliehen, aber ich hielt es ihr nicht zugute. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie mir irgendetwas gegeben hatte. Sie hatte nur genommen. Wenn die Lage aussichtslos war, würde ich sie nicht um Mary Anns willen schönreden. Es lag nicht in meiner Natur, mir hübsche Metaphern einfallen zu lassen, die sie begreifen oder akzeptieren konnte, wie Hannah es vermutlich vermocht hätte. Ich fand ihre Fragen dumm und unnütz, aber weil sie sehnlichst glauben wollte, dass einer von uns die Antworten auf alle Fragen hatte, hing sie an meinen Lippen. Manchmal stieß sie mich nur leicht an oder berührte mich, sagte aber nichts und stellte auch keine Frage, sondern hoffte auf eine Antwort, eine Antwort auf alles. Auch ich gierte nach der universellen Wahrheit, und an manchen Tagen war es nur Mary Anns schmarotzerhafte Verzweiflung, die mich daran hinderte, mich genauso kindisch zu benehmen wie sie. Wenn Mr Hardie behauptete, der Wind habe auf West gedreht, dann fragte sie: »Auf West?
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