In einem Boot (German Edition)
hart und scharfkantig wie nackte Knochen. Bevor ich zudrückte, fühlte ich eine Wolke seines Atems auf meinem Gesicht. Der Gestank schien Ausdruck dafür zu sein, was sich in seinem Inneren befand: Tod und Verwesung. Ich drückte, so fest ich konnte. Ich fühlte die Luftröhre unter meinen Fingern krampfhaft zucken und den Adamsapfel hüpfen wie ein entsetztes Herz.
»Drücken Sie fester, meine Liebe«, sagte Mrs Grant mit merkwürdig ruhiger Stimme. Sie hatte nichts von Hannahs kalter Wut oder der irrsinnigen Hysterie der Italienerin, die immer noch mit dem knochigen Vogelflügel auf Hardies Gesicht einstach. In Mr Hardies Augen lag ein wahnsinniges Glänzen, und ich hatte Angst loszulassen, weil ich glaubte, er würde mich dann umbringen.
Hannah stand aufrecht und kerzengerade neben mir und Hardie schien im Vergleich mit ihr zu schrumpfen. Ich spürte, wie mir eine neue Kraft durch die Glieder zog. Selbst heute noch kann ich dieses Gefühl in mir aufleben lassen, auch ohne die Energie des Wahnsinns, der uns damals gepackt hatte. Irgendwie gelang es uns, in dem wild schlingernden Boot das Gleichgewicht zu halten. Ich weiß nicht, ob es die Wellen waren oder der stattfindende Kampf, der das Boot derart wild auf dem Meer tanzen ließ. Aber es kam mir so vor, als ob diese beiden Aspekte Teil derselben Lebenskraft waren, die sich entladen wollte und freigesetzt werden musste, solange noch ein menschliches Wesen auf dem Antlitz der Erde wandelte. Mr Hardies geisterhaftes Gesicht fuhr auf mich zu, als Hannah und ich ihn auf die Füße zogen. Seine Bartstoppeln kratzten über mein Gesicht, sein Atem vermischte sich mit dem Gestank der verfaulenden Vögel und meinem eigenen säuerlichen Körpergeruch. Die Italienerinnen sangen und kreischten hinter uns, und irgendjemand beugte sich über die reglose Mary Ann, die ohnmächtig geworden war, und streichelte ihr Haar und küsste ihre Wangen. Ich musste wohl einen Moment nicht aufgepasst haben, hatte mich von Hardie abgewandt – ansonsten hätte ich Mary Ann nicht sehen können –, und erst als Mrs Grant meinen Namen schrie, drehte ich mich wieder um, gerade noch rechtzeitig, um einen Schlag abzuwehren, der mich ansonsten über Bord geschleudert hätte. »Treten Sie ihm gegen die Beine!«, schrie Hannah, und wie ein Mann fingen wir an, auf Hardie einzutreten. Er sackte nach vorne, gegen uns, und wir mussten sein Gewicht mit unseren Schultern abfangen. Er war überraschend leicht, oder ich war stärker, als ich gedacht hatte, wobei meine Kraft schwankte. Sie kam in kleinen Schüben, stotterte und hustete wie ein kaputtes Automobil. Ich griff in seine Jacke und tastete nach dem Kästchen, das ich noch immer dort vermutete, aber – wie ich später meinen Anwälten versicherte – es war nicht da. Und dann wuchteten wir mit einer einzigen gewaltigen Anstrengung den einzigen Menschen, der über Boote und Strömungen Bescheid wusste, über Bord und ließen ihn ins schäumende Meer fallen.
Wir schauten minutenlang zu. Er wedelte wild mit den Armen. Er versank und tauchte wieder auf, mehr als einmal, spuckte Wasser aus, beschimpfte und verfluchte uns. Ich glaube, er sagte so etwas wie: »Wie Hunde sollt ihr verrecken!« Und dann gurgelte er und ging unter, wurde von der See eingesaugt. Wir starrten auf das Loch im Wasser, bis eine große Welle darüber hinwegrollte. Unser kleines Boot wurde von derselben Welle emporgetragen, hinauf in das trübe Licht einer frühen Abenddämmerung, aber immer noch starrten wir aufs Wasser, besessen von einem kollektiven Verlangen zu begreifen, was wir getan hatten, oder vielleicht zu rechtfertigen oder zu vergessen. Und wir hätten uns vermutlich abgewandt und uns um Mary Ann gekümmert, hätten mit den Italienerinnen gesungen, die jetzt eine Art Arie oder Hymne angestimmt hatten, hätten einander vielleicht versichert, dass der Himmel ein bisschen heller aussah – welche Richtung war das? War es Osten? War es etwa noch immer Morgen? –, wo die Wolken nun höher stiegen und sich von der Sonne bescheinen ließen, wäre nicht Mr Hardie wieder aufgetaucht. Sein Kopf und seine Arme stießen durch die Oberfläche, so nah am Boot, dass wir sehen konnten, wie das Wasser in seinem offenen Mund zwischen den gelben Zähnen schwappte, die wie Grabsteine aussahen. Wenn er vorher schon nicht mehr menschlich gewirkt hatte, so sah er jetzt aus wie eine Höllenkreatur aus einem uralten Bibeltext, der einzig und allein dazu geschrieben worden war, um kleine
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