In einem Boot (German Edition)
und etliche Stücke getrockneten Fischs vorfand. Sie nahm auf Hardies Sitz Platz und teilte uns allen etwas zu essen aus, wobei sie wiederum den Uhrzeigersinn einhielt. Greta sagte: »Er hat also Essen versteckt!« Damit sprach sie die einhellige Meinung aus, aber ich fragte mich, ob er es für sich selbst zurückgehalten hatte oder für den Moment, in dem wir Nahrung bitter nötig gehabt hätten. Einige der Frauen benahmen sich so, als ob wir einen wüsten Tyrannen gestürzt hätten oder unserer Rettung einen großen Schritt näher gekommen wären. Mein Optimismus war stillerer Natur, aber lange vor Einbruch der Dunkelheit war die unmenschliche Stärke, die in uns gefahren war, wieder versiegt.
Hannah geleitete uns in ein kleines Gebet, doch ohne den Diakon, der den Worten die nötige Legitimation hätte verleihen können, kam uns das Ritual fast heidnisch vor – ein Bittgebet an den Gott des Meeres, dem wir gerade ein Menschenopfer dargebracht hatten. Aber der Schlaf der Gerechten ist genau der gleiche wie der Schlaf der Verdammten. Als der Morgen graute, lag das Meer ruhig da. Der Himmel war klar, und nachdem wir das Loch in der Seite mit der Ölhaut verstopft hatten, konnten wir das meiste Wasser aus dem Boot schöpfen.
Teil IV
Gefängnis
Im Moment sitze ich auf meiner Pritsche, auf drei Seiten von grauen Wänden eingeschlossen. Die vierte Wand besteht aus Gitterstäben, und zwischen den Stäben hindurch kann ich quer über einen Gang in die Zelle einer Frau namens Florence schauen, die ihre Kinder erstickt hat, damit sie nicht mit einem Vater leben mussten, der sie schlug. »Warum haben Sie sie nicht einfach zu sich geholt?«, fragte ich sie eines Tages über den Gang hinweg. »Sie haben bei mir gelebt, aber wie hätte ich sie ernähren sollen?«, erwiderte Florence mit zorniger Stimme und fügte dann hinzu: »Der Richter hat mir bereitwillig das Sorgerecht gegeben, war aber nicht willens, mir auch etwas vom Geld meines Mannes zuzusprechen. ›So ist das Gesetz‹, sagte er mit seiner ganzen hochtrabenden Würde. ›Und wer schreibt das Gesetz?‹, wollte ich von ihm wissen, aber er hat nur mit dem Hammer auf sein Pult geschlagen und gefragt, ob ich die Kinder haben wollte oder nicht.« Sie war voller Wut, aber ohne Bedauern, und als ich sie fragte, ob ihre Kinder Jungen oder Mädchen gewesen waren, brach sie in eisiges Gelächter aus und sagte: »Natürlich Mädchen! Das sieht mir ähnlich, dass ich nur Mädchen bekomme!« Seitdem fragt sie mich jedes Mal, wenn wir miteinander reden: »Wer, glauben Sie, macht die Gesetze?« Ich meide mittlerweile den Kontakt mit ihr. Auch wenn sie an den Gitterstäben steht und zu mir herstarrt, tue ich so, als würde ich sie nicht bemerken. Mein eigener Geisteszustand ist so zerbrechlich, dass ich mich durch die Gespräche mit ihr nicht noch mehr in Aufregung versetzen will.
Florence’ Bemerkung beunruhigte mich auf mehr als eine Weise. Ihr Gerede über Geld brachte mir gewisse Umstände meiner eigenen finanziellen Situation zu Bewusstsein, die geklärt werden müssen, wenn es mir gelingt, meine Unschuld zu beweisen. Vor einer Woche brachten mir meine Anwälte einen Brief von meiner Schwiegermutter, der mich hoffen lässt, mir aber keinerlei Hinweise darauf gibt, ob sie mich willkommen heißen würde, wenn die Anklage gegen mich fallen gelassen wird. Sie lieferte mir auch keine Erklärung dafür, dass sie so lange gezögert hat, Kontakt mit mir aufzunehmen. Ich vermute, sie wollte sich erst aus zuverlässiger Quelle die Eheschließung zwischen Henry und mir bestätigen lassen. Ich dachte wieder über das Telegramm nach, das Henry ihr geschickt hatte. Die Untersuchungen, die dem Gerichtsverfahren vorausgingen, haben gezeigt, dass das Funkgerät auf der Zarin Alexandra zum Zeitpunkt des Unglücks tatsächlich funktionsuntüchtig war, aber ob das auch schon so gewesen war, als Henry sein Telegramm abgeschickt hatte, wusste ich immer noch nicht. Ich habe auch herausgefunden, dass der Funker kein Angestellter des Schiffseigners war, sondern für die Firma Marconi gearbeitet hat, was mich zu der Überzeugung bringt, dass Mr Blake mit dem Absenden irgendwelcher Notsignale zum Zeitpunkt der Explosion nichts zu tun hatte. Aber bei diesen Überlegungen halte ich mich nicht lange auf. Worüber ich allerdings unentwegt nachdenke, ist die Tatsache, dass Mrs Winter – falls es Henry nicht möglich war, sein Telegramm abzuschicken – erst von der Heirat ihres Sohnes erfuhr, als sie
Weitere Kostenlose Bücher