In einem Boot (German Edition)
fiel.
»Grace! Mary Ann!«, schrie Mrs Grant. »Helft Hannah!« Bis heute weiß ich nicht, warum ich auserwählt wurde, aber sie schaute mich mit diesem prüfenden Blick an und nannte mich mit sanfter Stimme beim Namen, als hätte sie keinen Zweifel an meiner Treue ihr gegenüber. Ich war die Einzige, die sich nicht eindeutig entschieden hatte. Vielleicht wollte sie mich dazu bringen, durch meine Taten abzustimmen, wenn schon nicht durch meine Worte. Ihr rundes Gesicht und ihre amethystfarbenen Augen waren auf mich gerichtet wie Leuchtfeuer, als ich Hannah durch das wirbelnde Wasser folgte, das sich im Boot angesammelt hatte und in dem immer noch Vogelknochen, Federn und kleine Stücke verrottenden Fleischs schwammen. Ich schloss die Augen und versuchte, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Jetzt, da sich Mary Ann nicht mehr an mich drückte, war mir eiskalt. Mr Hardie sagte: »Ihr kriegt mich nicht, ha! Nicht wenn ich euch zuerst kriege!«
Hannah rief: »Er ist verrückt geworden! Er wird uns alle umbringen! Wir müssen uns schützen! Packt ihn!«
Ich machte die Augen auf, zum einen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, zum anderen, um eine mögliche Gefahr abzuwehren. Wenn Mr Hardie mich direkt angeschaut, mich angesprochen oder irgendeine andere Geste des Erkennens gemacht hätte, hätte ich mich neben Greta gesetzt und wäre keinen Schritt weitergegangen. Aber es war Hannah, die mich anschaute, Mrs Grant, die mich ansprach und mir behutsame Worte der Ermutigung mit auf den Weg gab. Während ich gebückt weiterging und mich an den Schultern der anderen festhielt, um nicht umzufallen, gellten mir das Heulen und Kreischen der Italienerinnern in den Ohren. Ich streckte die Hand nach dem Colonel aus, um Halt zu finden, und er wich zurück, als hätte er Angst, sich anzustecken. Etwas Großes, Schwarzes flatterte am Rande meines Blickfeldes, und ich glaubte, es sei der Engel des Todes, wobei zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststand, auf wen er sein Augenmerk gerichtet hatte. Erst als Hardie nach Hannah schlug, stolperte der Engel nach vorne und nahm die Gestalt einer der Italienerinnen an, die einen Vogelflügel in der Hand hielt und damit auf Hardies Augen zielte. Ich glaube, ich rief Mr Hardies Namen, wollte ihm eine letzte Chance geben, sich Geltung zu verschaffen. Seine Augen zuckten über mich hinweg; sie waren nur noch blicklose Murmeln, und er schien keiner Vernunft mehr zugänglich zu sein.
Dann stand plötzlich Mrs Grant neben mir. Ihre schwere, massige Gestalt gab mir Halt. Der Augenblick blähte sich auf, und die Zeit blieb stehen. Ich hatte Gelegenheit, mir die metallisch glänzende Wasserfläche anzuschauen, das dumpfe Glitzern der Sonne auf den Wellen. Mir zog der Gedanke durch den Sinn, dass jeder, der auf diese glänzende Fläche gejagt wurde, einfach aufstehen und davonlaufen würde, froh und glücklich, dem Boot und der verrohten und stinkenden Menschheit darin entkommen zu sein. Ich weiß nicht, was die anderen taten – es war, als hielte ich allein die Fäden des Schicksals in Händen. Heute ist mir klar, dass es der Gipfel der Selbsttäuschung war zu glauben, dass ich irgendeine Form von Kontrolle hatte, aber in diesem Augenblick war ich mir sicher, dass ich für die Mächte des Lichts kämpfte. Von irgendwoher hörte ich eine Stimme, vielleicht die von Mrs Grant, die gurrte: »Gutes Mädchen.« Aber ich kann nicht beschwören, dass sie überhaupt etwas sagte. Ich weiß nur, dass ich für eine kurze Zeit, die aus den Ereignissen des Tages wie herausgeschnitten wirkt, allein und ohne Unterstützung im Boot stand und mich Mr Hardie gegenübersah, dem nichts Menschliches mehr anhaftete.
Dann fingen die Räder wieder an, sich zu drehen, und die Zeit nahm ihren Lauf. Ich kann nicht sagen, was ich dachte, ob ich überhaupt etwas dachte. Ich weiß nur, dass die Gefahren, denen wir ausgeliefert waren, sich zu einer unvorstellbaren, übermächtigen Bedrohung ausgeweitet hatten, und es an mir zu sein schien zu entscheiden, nicht ob Mr Hardie leben oder sterben würde, sondern ob wir anderen überleben würden. Hannahs Gesicht bot einen entsetzlichen Anblick, blutlos bis auf den scharlachroten Schnitt auf der Wange, mit hellen Augen und schwarzen, schlangengleichen Haaren. Hannah und Mrs Grant hatten Hardie rechts und links an den Armen gefasst, und Hannah schrie: »Grace, pack den verdammten Kerl am Hals!«
Ich tat es. Ich legte beide Hände um Hardies dünne Kehle. Er war so kalt wie ein Fisch,
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