Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Rogan
Vom Netzwerk:
Hat er West gesagt?«
    »Ja«, erwiderte ich dann, oder »Nein«, je nachdem, wie es die Situation erforderte, und meistens sagte ich ihr die Wahrheit.
    »Was bedeutet das?«, fragte sie. Oder: »Wo ist Westen?«
    Dann kratzte ich mein spärliches Wissen über unsere Position zusammen und teilte ihr die Fakten mit: »Das bedeutet, dass wir wieder zurück nach England getrieben werden«, erklärte ich anfangs, als wir noch versuchten, unsere Position zu halten. »Sehen Sie es doch mal positiv«, ergänzte ich. »Wenn wir nach England fahren, können Sie sich ein neues Kleid für Ihre Hochzeit kaufen.« Hannah dagegen sagte Dinge wie: »Stellen Sie sich die ganze Sache wie eine Wippe vor, Mary Ann. Sie neigt sich schon irgendwann zur richtigen Seite.«
    Jetzt wurde von uns verlangt, eine schwere Entscheidung zu treffen. Es ging darum, ob Hardie Schuld auf sich geladen hatte und um die sich daraus ergebende Strafe. Aber ich ließ es so aussehen, als ob Mary Anns Schwäche das eigentliche Problem sei. »Ach, kommen Sie schon, Mary Ann«, sagte ich. »Sie können doch nicht so tun, als würden wir hier in der Badewanne herumspielen. Es tut mir herzlich leid, wenn Ihnen die Auswahlmöglichkeiten nicht gefallen, aber es ist eine Tatsache, dass Mr Hardie für uns zur Gefahr geworden ist. Er hat jegliche Autorität verloren und auch seine Fähigkeit, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Entweder er geht über Bord, oder aber wir alle ertrinken. So einfach ist das.«
    Selbst als ich das sagte, war ich mir nicht sicher, ob es stimmte. Ich wusste es damals nicht, und ich weiß es auch heute nicht. Als ich mir Mr Hardie an diesem Morgen betrachtete, konnte ich kaum die übermenschliche Lichtgestalt jener ersten Tage im Boot wiedererkennen. Wenn Mr Hardie immer noch gottgleich war, so war er ein Gott in seiner menschlichen Form geworden, und wir alle wissen, was dann mit Göttern geschieht. Vielleicht hatte er sich verändert, vielleicht wir uns, oder vielleicht erforderte einfach nur die Situation etwas Neues. Aber ob Mr Hardie nun ein anderer war oder nicht, so war Mrs Grant dieselbe geblieben, nur gestärkter: Sie war solide, ausdauernd, unverdrossen und tüchtig. Aber mehr noch als diese beiden Menschen war es die Stimmung im Boot, die bewertet werden musste, und während ich noch Mary Ann mit meinen harschen Worten vor den Kopf stieß, achtete ich halb bewusst, halb unbewusst auf die Reaktionen meiner Kameraden, betrachtete ihre Gesichter und versuchte, ihre Gedanken zu lesen.
    Wusste ich im Voraus, wie die Abstimmung ablaufen würde? Wie die Dinge standen, kam Mary Ann vor mir an die Reihe. Für jemanden, der von seinem Schreibtisch aus die Fakten beurteilte, mochte dies vorhersehbar sein: Wenn wir nach Mr Hardies Plan die Schichten einhielten oder den Wasserbecher herumreichten, geschah dies immer im Uhrzeigersinn, angefangen an Mr Hardies Platz. Daher lag die Vermutung nahe, dass Mrs Grant diesem Muster folgen würde, was zum Ergebnis gehabt hätte, dass Mary Ann, die jetzt rechts von mir saß, ihre Stimme abgeben musste, ehe ich es tat. Natürlich war vorher Mr Hardie derjenige gewesen, der bestimmt hatte, wie die Dinge liefen, und jetzt war es Mrs Grant. Warum sollte sie seine Gewohnheiten übernehmen? Aber dieser Ablauf hatte sich uns eingeprägt, und wenn ich die Sache bis zu Ende durchdacht hätte – wozu ich in meinem geschwächten Zustand vermutlich gar nicht in der Lage gewesen wäre –, wäre ich zu dem Schluss gekommen, dass Mrs Grant so wenig wie möglich an die Dinge rühren wollte, damit wir das Gefühl hatten, dies sei nur eine unserer vielen täglichen Routinepflichten, etwas, was jeder, der in einem kleinen Boot auf dem offenen Meer trieb, tun musste.
    Auf jeden Fall stimmte Mary Ann vor mir ab. Ich sagte noch – so oder ähnlich – zu ihr: »Denken Sie nicht so viel an sich selbst. Denken Sie an Ihren Robert. Denken Sie an uns, oder denken Sie von mir aus doch an sich selbst, wenn es sein muss, wie Sie in diesem schwarzen Wasser treiben und darum kämpfen, Ihr Leben eine oder zwei Minuten zu verlängern, nicht weil es irgendetwas nutzt, sondern weil das Ankämpfen gegen den Tod in der Natur der Bestie liegt …« Mary Ann verbarg das Gesicht in den Händen und murmelte mutlos: »Ich bin keine Bestie.« Dann hob sie die Hand und nickte als Zeichen ihrer Zustimmung.
    Jetzt war ich an der Reihe. Mary Ann hatte die Fäuste gegen die Augen gepresst. Ihre verfilzten Haare fielen ihr vor das Gesicht. Es

Weitere Kostenlose Bücher