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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Rogan
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Gedanke beim Anblick der Lichtbänder war, dass wir uns mitten in einer Schar Engel befanden, dass die Engel gekommen waren, um uns in den Himmel zu geleiten, und dass Mary Ann mit ihrer Vermutung, wir müssten alle sterben, recht hatte. Als sie dann ganz plötzlich aufschrie: »Hier drüben! Hier drüben!«, da dachte ich, sie meinte, auch dort seien Engel, bis jemand laut aussprach, es könnten doch auch die Scheinwerfer einer Suchmannschaft sein. »Wir sind gerettet! Wir sind gerettet!«, schrie Mary Ann wieder und wieder, kreischte wie irre und wäre beinahe ins Wasser gesprungen in ihrem Bestreben, so schnell wie möglich an Bord des Schiffes zu gelangen, von dem sie annahm, dass es im Dunkel der Nacht auf uns zusteuerte.
    Ich war Mary Anns Hysterie leid. Niemand konnte ihr Vernunft beibringen, und als sie sich das Kleid vom Leib riss und verkündete, sie würde ins Meer springen und zu dem eingebildeten Schiff schwimmen, versuchte niemand, nicht einmal Mrs Grant, sie davon abzuhalten. Sie überlegte es sich wohl anders, aber in dieser Nacht lag sie im Wasser auf dem Boden des Bootes, rollte hin und her und stöhnte zum Gotterbarmen. Ihr Haar klebte wie Seetang an ihrem Gesicht, ihre Lippen waren blau vor Kälte und ihre Wangen rot vor Fieber. Ihre Schreie waren unerträglich, und irgendwann hatte Hannah ein Erbarmen mit uns und schlug sie bewusstlos. Niemand sonst rührte sich. Uns fehlte die Kraft, irgendetwas Sinnvolles zu tun – warum sollten wir uns dann mit Dingen abgeben, die uns nicht im Geringsten weiterhelfen konnten?
    Ein gelbliches Licht schiebt sich vom Gang her in meine Zelle hinein. Hoch oben in der Außenwand befindet sich ein winziges Fenster. Ich kann es nicht erreichen, kann nicht hinaussehen, aber ich weiß, dass es nach Osten blickt, denn am Morgen weckt mich ein strahlend heller Speer aus silbrigem Licht, wenn die Sonne scheint, und ein trüber, ausgefranster Strahl, wenn es bedeckt ist. All das ist vorhersehbar und tröstlich, und an diesem Punkt meines Lebens gibt es für mich nichts Wichtigeres. Das Licht verblasst jetzt, und bald schon werde ich die Worte auf dieser Seite nicht mehr lesen können.

Dr. Cole
    Dr. Cole ist der Psychiater, der von meinen Anwälten angeheuert wurde, um meinen Geisteszustand zu überprüfen. Ich habe jede Woche einen Termin bei ihm, mit welchem Ergebnis, ist mir noch nicht ganz klar. Ich nehme ihn nicht einmal halb so ernst wie er sich selbst, aber meine Besuche bei ihm sind eine willkommene Gelegenheit, meine Zelle zu verlassen. Ich ahne, dass sich Dr. Cole, was meine Aussagen betrifft, nicht an die ärztliche Schweigepflicht hält, und ich mache mir einen Spaß daraus, zu versuchen, den Sinn hinter seinen Fragen zu ergründen und entsprechend zu antworten. In manchen seiner Ausführungen liegen bereits die Antworten verborgen, die er zu hören wünscht. Ein Standardspruch ist etwa: »Aber das muss ja ganz entsetzlich gewesen sein!« Und selbstverständlich stimme ich ihm immer zu. Nach ein paar Wochen fing ich an zu glauben, dass er mir die Sache zu leicht machte, dass selbst ein Mann mit einem derart runden Gesicht und diesen dicken Brillengläsern eine gewisse Erfahrung mit Frauen haben musste. Anfangs vermutete ich, dass er den Dummen spielte, um mich einzulullen, dann wieder kehrte ich zu der Überzeugung zurück, dass er tatsächlich nicht besonders klug war. Aber eines Tages hatte ich eine Erleuchtung. Er wollte nichts weiter, als dass ich mich entspannte, in der Hoffnung, dass mir irgendwann ein wichtiges Detail herausrutschte, mit dem er dann den Rest meiner Psyche entschlüsseln konnte. Ich sagte ihm rundheraus, was ich dachte, und fügte dann hinzu: »Meine Psyche ist keine uneinnehmbare Festung, Dr. Cole. Dort verbirgt sich weder ein wertvoller Schatz noch irgendwelche abgründigen, dunklen Geheimnisse. Wenn Sie sich zu einer eher traditionellen Gesprächsführung entschließen könnten, dann würde ich mein Bestes tun, um offen und ehrlich auf Ihre Fragen zu antworten. Ich bin mir sicher, dass Sie dann alles herausfinden würden, was Sie wissen wollen.«
    »Sie sind ja ein offenes Buch!«, rief er aus. Er schien entzückt von der Idee und schlug vor, dass wir uns zuerst meinen Eltern widmen sollten. Ich erzählte ihm vom Niedergang meiner Familie und hielt mit nichts hinter dem Berg. Es dauerte eine Weile, bis ich alle Einzelheiten vom wirtschaftlichen Ruin meines Vaters und von der Nervenkrankheit meiner Mutter erzählt hatte. Ich war gerade

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