In einem Boot (German Edition)
Leben gekommen waren.
»Ach ja? Das ist aber wirklich ein Glück!«, sagte Hannah. Ich war mir nicht sicher, was sie damit meinte. Aber natürlich war sie nicht auf mich so wütend. Ich war lediglich ein Ventil, an dem sie ihren Zorn ablassen konnte. Wenn ich Hannah anschaute, fiel es mir schwer, die Frau aus dem Boot in ihr wiederzuerkennen. Damals war sie mir feurig und unabhängig erschienen, aber jetzt kam sie mir nur noch verbissen und streitsüchtig vor. Vielleicht wurde das, was ich an ihr bewundert hatte, durch die Umstände unterdrückt, oder aber es hatte nur in meiner Einbildung existiert. Meine Gedanken diesbezüglich schwankten täglich, aber gleichzeitig hatte ich mich mit bedeutsamen Dingen zu beschäftigen, und Hannah gehörte nicht mehr dazu.
»Hören Sie gar nicht auf Hannah«, sagte Mrs Grant zu mir. »Sie ist nur wütend, dass unter den Geschworenen keine Frauen sind.«
Unwillkürlich rief ich aus: »Aber wie sollte das auch möglich sein? Nur Wähler dürfen zu Geschworenen berufen werden, und Frauen können nicht wählen!« Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich merkte, dass ich Hannah ihren eigenen Ball zugespielt hatte. Verwirrt schwieg ich, und eine Zeit lang schaukelten wir in einträchtiger Stille dahin. Wir waren fast an der Stelle, wo ich das küssende Paar beobachtet hatte, als Hannah mir zuflüsterte: »Dir kommt eine Jury aus lauter Männern doch sehr entgegen, nicht wahr?« Aber ich starrte bloß aus dem Fenster und überließ ihr das letzte Wort. Sie war ja nicht böse auf mich, und wenn sie erst dann glücklich war, wenn die Weltordnung auf den Kopf gestellt war, dann konnte ich ihr nur Glück wünschen.
An einem anderen Tag beugte sich Hannah zu mir, um sich über das Rattern des Fahrzeugs hinweg flüsternd Gehör zu verschaffen. »Du bist nicht so schwach, wie du vorgibst zu sein«, raunte sie mir ins Ohr.
Vor der Odyssee im Rettungsboot Nr. 14 hatte ich es nie nötig gehabt, mir über die Vorteile physischer Stärke Gedanken zu machen, am allerwenigsten in Bezug auf mich selbst. Nichtsdestotrotz war ich von meinem Durchhaltevermögen überrascht und empfand es als großen Segen. Natürlich wurden jene, die an den Ereignissen zerbrachen – geistig oder körperlich –, nicht angeklagt. Hannah und Mrs Grant behaupteten, dass wir im Grunde genommen bestraft wurden, weil wir stark waren. Aber ich empfand das nicht so. Als ich an einem Verhandlungstag die Gelegenheit bekam, mich zu Wort zu melden, dankte ich Gott, dass er seine schützende Hand über mich gehalten hatte, und versicherte, dass ich den Geschworenen vertraute, die Beweise unvoreingenommen abzuwägen und das Richtige zu tun. Die Anwälte betonten, dass wir drei kaum eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellten – wir mussten weder rehabilitiert werden, noch musste man Angst vor uns haben, denn wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns noch einmal in einer solchen Situation wiederfänden?
Einundzwanzig Tage lang war ich von Menschen umgeben gewesen, die ihren Verstand verloren oder nachts ihr Leben aushauchten, doch ich blieb davon verschont. Den Grund dafür kenne ich nicht. In seiner Eröffnungsrede fragte mich der Staatsanwalt: »Und warum haben Sie überlebt? Warum sind nicht auch Sie drei Opfer der Elemente geworden? Warum blieben Sie stark und gesund, während viele der anderen schwach und krank wurden? Und hätte sich ein wahrhaft starker Mensch nicht edelmütig verhalten und wäre über Bord gesprungen, um die anderen zu retten?«
»Und wer wäre so edelmütig?«, antwortete Mrs Grant mit einer Gegenfrage. »Sie etwa?« Augenscheinlich war es ihr nicht erlaubt zu sprechen, denn der Richter klopfte mit seinem Hammer auf das Pult und wies die Geschworenen an, die Äußerung nicht zu berücksichtigen. Als wir am Ende dieses Tages das Gerichtsgebäude verließen, wartete eine Traube von Reportern vor dem Eingang. »Warum haben Sie überlebt?«, schrien sie uns zu. »Woher nahmen Sie Ihre Kraft?«
Im Gefängniswagen stampfte Hannah mit dem Fuß auf und rief: »Was ist das hier? Eine Hexenjagd? Hätten wir ertrinken müssen, um unsere Unschuld zu beweisen?« Ich erwiderte, dass es vielleicht gar nicht möglich war, wirklich unschuldig zu sein, dass man nicht gleichzeitig am Leben und ohne Schuld sein konnte, aber Hannah warf mir nur einen kalten Blick zu und wandte sich dann zu Mrs Grant. Wahrscheinlich war sie wütend darüber, dass ich den Reportern auf ihre Frage, warum wir überlebt hatten,
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