In einem Boot (German Edition)
geantwortet hatte. »Durch die Gnade Gottes«, sagte ich. Es war die einzige Antwort, die ich hatte, obwohl ich schon seit Langem meinen kindlichen Glauben an Gott und die Kirche abgelegt hatte. Am nächsten Tag betitelten die Zeitungen den Artikel über unser Verfahren mit den fetten Buchstaben »DEO GRATIAS – Gott sei Dank« und ließen sich lang und breit über meinen Namen aus, der »Gnade« bedeutet.
Von Anfang an zeigten die Presse und auch alle anderen mehr Mitgefühl für mich als für Mrs Grant und Hannah, die irgendwann einmal zu mir sagte: »Seien wir mal ehrlich, Grace, du bist so gut darin, unschuldig zu tun, dass man dir die Sache tatsächlich abnimmt.« Wenn man so etwas zu hören bekommt, muss man sich verteidigen, und ich erwiderte, dass es doch sie und Mrs Grant waren, die eine Rolle spielten, indem sie sich so weit wie möglich von den Erwartungen und Konventionen der Öffentlichkeit entfernten. Aber irgendwann wurde mir klar, dass wir alle uns entscheiden mussten, wann es geraten war, sich gegen die bestehenden Regeln aufzulehnen, und wann wir uns ihnen unterwerfen mussten. Alles in allem waren wir drei uns doch ziemlich ähnlich.
Die Hauptzeugen der Anklage waren Mr Preston und Colonel Marsh. Die Uniform des Colonels war mit bunten Bändern und Rangabzeichen geschmückt. Er schwor auf die Bibel, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit, und präsentierte dann einen ganzen Berg unverfrorener Lügen. Er beschwor, er habe versucht, Mr Hardie vor uns zu schützen, dass er sich aber einer Übermacht gegenübergesehen und Angst gehabt habe, die Frauen würden ihn angreifen, wenn er nicht nachgebe. Ich sprang auf die Füße, weil ich dem Richter erzählen wollte, dass Colonel Marsh mehr als einmal mit Mr Hardie darüber gestritten hatte, ob man sich dem anderen Rettungsboot nähern solle, und dass er bei dem Verfahren, das Mrs Grant einberufen hatte, gegen Mr Hardie argumentiert hatte. Aber Mr Glover zog mich zurück auf meinen Platz, wo ich fassungslos mit anhören musste, wie Colonel Marsh behauptete, dass wir erst Mr Hardie aus dem Boot gestoßen hätten und dann gleich noch Mr Hoffman hinterher. Der Colonel sagte: »Mr Hardie stellte eine Bedrohung dar, das ist wahr, aber nicht für die Sicherheit der Frauen, sondern für ihre Machtposition. Es war von Anfang an klar, dass Ursula Grant die Anführerin sein wollte und dass Mr Hardie und Mr Hoffman, der Mr Hardie in allem unterstützte, ihr im Weg waren.«
Ich erwartete nichts weniger von Mr Preston, als diese unglaubliche Geschichte zu entkräften, die Ereignisse so darzustellen, wie sie sich wirklich abgespielt hatten, insbesondere in Bezug auf die Rolle, die der Colonel dabei gespielt hatte, aber als Preston den Zeugenstand betrat, war er sichtlich verunsichert. Mit zitternden Händen setzte er seine Brille auf. Er ging nicht weiter auf die Worte des Colonels ein, und ich vermute, dass der Ankläger ihm eingeschärft hatte, nichts zu sagen, was der Aussage des Colonels widersprach. Nach einer Weile schien er sich zu fassen und war beinahe wieder der Alte, als er dem Staatsanwalt eine Zeitabfolge der Ereignisse gab. Er ratterte Daten und Mengen mit großer Selbstsicherheit herunter, aber ohne einen roten Faden, der diese Fragmente zu einem schlüssigen Bericht verband, war seine Aussage nur von geringem Wert. Ich sah, wie der Vorsitzende der Jury ratlos den Kopf schüttelte, während er versuchte, sich auf die Zahlen und Angaben einen Reim zu machen.
Die Anklage verbrachte einige Tage damit, ihre Argumente und Beweise gegen uns vorzulegen, danach war die Verteidigung an der Reihe. Zwei der drei Italienerinnen waren gestorben, und die Überlebende war in ihre Heimat zurückgekehrt. Niemand wusste, ob diejenige, die Mr Hardie mit dem Vogelflügel in die Augen gestochen hatte, zu den Toten gehörte oder ob es die Frau gewesen war, die überlebt hatte. Weder die Anklage noch die Verteidigung zeigte Interesse daran, dies herauszufinden. Es blieben also – abgesehen von uns dreien – vierzehn weibliche Überlebende, von denen zwölf entweder persönlich vor Gericht erschienen, um zu unseren Gunsten auszusagen, oder eidesstattliche Versicherungen vorlegten. Alle zwölf beteuerten, dass sie ohne Hannah und Mrs Grant nicht überlebt hätten, obwohl einige zugaben, dass sie sich aufgrund ihres sowohl physisch wie auch mental zerrütteten Zustands nicht mehr genau an die Ereignisse jenes Augusttages erinnern konnten. Sämtliche Aussagen waren
Weitere Kostenlose Bücher