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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Rogan
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dem Morgengrauen faltete ich das Blatt Papier zu einem kleinen Quadrat zusammen und steckte es unter eine Ecke meiner Matratze. Zu spät merkte ich, dass Florence wach war und mich in der Dämmerung beobachtete. »Was ist das?«, zischte sie. »Wenn du’s mir nicht sagst, rufe ich die Aufseherin.«
    »Wovon redest du, Florence?«, fragte ich, so ruhig ich es vermochte. Ich wollte nicht, dass man mir den Artikel wegnahm. Vielleicht dachte ich, dass dort ein wichtiges Detail verborgen läge, oder vielleicht empfand ich das gleiche unbändige Verlangen nach persönlichem Besitz – und sei er noch so unbedeutend –, das alle Gefangenen miteinander teilen. In jedem Fall gab mir die Frage, wie diese einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammengesetzt werden konnten, etwas zu tun.
    »Du hast etwas unter deine Matratze gesteckt«, sagte Florence und schob ihr schmales Gesicht zwischen zwei Gitterstäbe. »Ich hab’s genau gesehen. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.«
    »Dann siehst du Dinge, die nicht da sind«, erwiderte ich mit einem leicht besorgten Ton. Ich wusste, dass Florence verzweifelt um ihre Glaubwürdigkeit rang, und fügte hinzu: »Wenn die Aufseherin nachschaut und nichts findet, wird sie wieder glauben, du seiest geisteskrank.« Florence warf mir einen verletzten Blick zu, aber sie schwieg, und gerade noch rechtzeitig, denn zwei Minuten später erschien die Aufseherin und läutete die Morgenglocke.
    Hin und wieder hole ich die Zeilen aus ihrem Versteck hervor und versuche, das Rätsel zu lösen. Es vertreibt mir die Zeit, aber ich bin noch zu keinem Schluss gekommen, ob Hardie und Blake nun Verschwörer oder Feinde waren. Vermutlich ein bisschen von beidem.

Zeugen
    Die Wochen vergingen, während unsere Anwälte Beweise sammelten und sich auf die Verhandlung vorbereiteten. In dieser Zeit begegnete ich Hannah und Mrs Grant nur dann, wenn wir zu Anhörungen gingen, denn die beiden waren in einem anderen Teil des Gefängnisses untergebracht. Aber nun, da das Verfahren eröffnet wurde, sehe ich sie täglich in dem gepanzerten Wagen, der uns vom Gefängnis ins Gericht bringt. Wir sprechen kaum miteinander, aber gelegentlich fällt mir auf, wie mich Mrs Grant während der Fahrt beobachtet. Manchmal unterhält sie sich leise mit Hannah, vermutlich über mich, aber meistens hält sie die Augen gesenkt oder starrt ins Leere. Ich frage mich, ob sie immer noch die großartigen und kraftvollen Gedanken in sich trägt, die ich ihr im Boot zuschrieb.
    Der Weg, den wir jeden Morgen nehmen, ist immer derselbe: über eine gepflasterte Brücke, vorbei an einer Kirche mit einem hohen Glockenturm, dann durch eine schmale, von Backsteingebäuden gesäumte Straße, die im Licht der aufgehenden Sonne glutrot schimmern. Nachmittags treten wir den Heimweg über dieselbe Strecke an, aber zu dieser Stunde haben die Häuser alle Farbe verloren und scheinen sich müde auf ihre Fundamente zu stützen. Menschen lümmeln sich lustlos auf den Türschwellen und warten auf ihr Schicksal. Was denken sie? War es Liebe oder etwas anderes, was den kecken jungen Mann dazu brachte, das Mädchen, das neben ihm ging, in den Schatten eines Hauseingangs zu ziehen und zu küssen?
    Bis auf wenige Ausnahmen spreche ich nicht mit Hannah und Mrs Grant. Meine Anwälte haben mich angewiesen, mich von ihnen fernzuhalten, und meistens beherzige ich das. Eine Ausnahme ereignete sich auf dem Heimweg nach dem ersten Verhandlungstag. Die beiden Aufseherinnen, die uns begleiteten, unterhielten sich, und Hannah ergriff die Gelegenheit und fragte mich in einem Ton, den ich als sarkastisch wertete: »Nun, Grace, was hältst du von den Geschworenen? Sind sie nach deinem Geschmack?«
    Natürlich war ich neugierig auf die Gesichter der Menschen gewesen, die über uns zu Gericht sitzen würden, aber abgesehen von der Überlegung, dass ich sie recht gewöhnlich fand, hatte ich mir keinerlei Gedanken gemacht. Ich antwortete, dass ich einen guten Eindruck von ihnen hätte und hoffte, sie würden unseren Argumenten mit wachem Geist und mitfühlenden Herzen folgen.
    »Und wie darf ich diesen ›guten Eindruck‹ verstehen? Findest du sie besonders gut aussehend? Ist es das?«
    »Ich meinte damit, dass sie mir intelligent und aufmerksam vorkamen. Genau die Art von Menschen, die man in einer Jury erwarten würde.« Dann erzählte ich Hannah, was mir Mr Reichmann eröffnet hatte, nämlich dass zwei der Geschworenen Verwandte hatten, die beim Untergang der Titanic ums

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